von Margarita Kinstner
Mein Vater bewohnte eine mittelgroße Wohnung in einer großen Gemeindebauanlage am Ostrand der Stadt. Im Erdgeschoß des Gebäudes befanden sich außer einer kleinen Supermarktfiliale noch ein Blumengeschäft, ein Tabakladen, ein Kaffeehaus, eine Schnapsbar, eine Nachtbar sowie eine Polizeistation.
Im achten Stockwerk wohnte neben der Familie meines Vaters ein Ehepaar, welches die achtzig seit einiger Zeit überschritten hatte. Der Mann, der aufgrund seiner schweren Krankheit im Bette lag, wartete tagein, tagaus auf den Tod, während seine Frau ob der Tristesse ihrer Umgebung oft in Einsamkeit versank, weswegen die Frau meines Vaters sie manchmal zu einer Tasse Kaffee einlud.
Mein Vater, der außer mir, die ich nur an den Samstagen zu Besuch kam, noch zwei weitere Kinder hatte, beides Söhne, verließ die Wohnung an den Arbeitstagen lange vor dem Ende der Dunkelheit und kam erst spät wieder, dann nämlich, wenn der jüngere meiner Halbbrüder bereits im Bette lag und der ältere im Pyjama vor dem Fernseher saß und mit müden Augen Super Mario spielte.Schon damals nahm der Fernseher einen erheblichen Teil des väterlichen Wohnzimmers ein. Ein Ungetüm mit riesigem, blank geputztem Bildschirm, dessen Diagonale in etwa der damaligen Körperlänge meines jüngeren Halbbruders entsprach, und dessen Hinterteil so dick war, dass es weit über die Kante der niedrigen Kommode, auf der er stand, hinausragte, was man jedoch nur sah, wenn man gleich beim Betreten des Wohnzimmers auf das Gerät blickte.
Die Sofaecke, die den Rest des Zimmers einnahm, war eine ockerfarbene Landschaft aus weichen Pölstern, auf welche die Frau meines Vaters bunte Häkeldecken gebreitet hatte, damit wir Kinder beim Verzehr unserer Knabbereien und Schokoriegel keine Flecken hinterließen.
Auf eben dieser ockerfarbenen Landschaft, die aus zwei im rechten Winkel aneinander geschobenen Sofas, einem Hocker und einem Sofasessel bestand, wurden auch die Gäste empfangen, wie etwa jene alte Dame von nebenan, für welche die Frau meines Vaters so viel Mitleid empfand.
An den Wochenenden jedoch war die Nachbarin nicht willkommen. Wenn ich zu Besuch kam, lag der Vater auf einer der Häkeldecken, während wir Kinder wie die Spatzen aufgereiht auf der anderen hockten, Soletti knabberten und gebannt auf den Bildschirm starrten.
Nach dem samstäglichen Videoschauen, wenn der Vater beschloss, dass ihm unser Geschnatter zu laut wurde und er seine Ruhe haben wollte, schickte er uns in das Zimmer meiner Halbbrüder. Der schmale Raum befand sich im hintersten Winkel der Wohnung. In ihm standen ein Stockbett, auf dessen Federbetten bunte Disneyfiguren tanzten, ein Schreibtisch, auf dem ein Becherchen mit gespitzten Buntstiften stand, ein schmales Regal mit Schulbüchern sowie ein Kleiderkasten, der seine besten Zeiten zwar hinter sich hatte, mit seinen farbenfrohen Stickern, die meine Halbbrüder aufgeklebt hatten, jedoch für eine gewisse Farbgebung sorgte.
Sobald wir das Zimmer betraten, holte der ältere meiner Halbbrüder für den jüngeren die Matchboxautos vom Kasten, während ich selbst die große Schreibmaschine aus dem Hartschalenkoffer zog, welche die Frau meines Vaters extra für mich aufgetrieben hatte. Ich hatte mir fest in den Kopf gesetzt, dereinst eine berühmte Schriftstellerin zu werden, weswegen die Frau meines Vaters in der Schreibmaschine eine gute Gelegenheit gesehen hatte, mich in die väterliche Wohnung zu locken, denn mit meinen zwölf Jahren war ich wankelmütig und konnte meinem Vater, der mir in den Augen meiner Mutter nichts zu befehlen hatte, jederzeit meine Aufmerksamkeit entziehen.
Der ältere meiner Halbbruder spielte meinen Sekretär. Sobald meine Finger zu schmerzen begannen, musste er sich an die Schreibmaschine setzen und die Worte, die ich ihm diktierte, tippen, wobei er mir stets zu langsam war, weswegen ich mit meinen wunden Fingerkuppen ungeduldig gegen die Tischplatte trommelte, was wiederum die gespitzten Buntstifte im Becherchen noch mehr zum Erzittern brachte.
Es ist stets das Kleine, Gewöhnliche, das mir heute einfällt, wenn ich an die Samstage im Hause meines Vaters zurückdenke. Nicht die vergnügten Stunden beim Geburtstagsfeste, nicht die Spaziergänge in den Prater hinein, wenn meine Halbbrüder und ich ausnahmsweise einen Schein bekommen hatten, um uns von den fliegenden Sesseln durch die Luft wirbeln zu lassen. Nein, es ist das Alltägliche, das Wiederkehrende, das sich in meine Erinnerungsbilder schiebt; eben jene monotonen Abläufe, aus denen heraus ich das Wesen jener Erwachsenen, die meine Kindheit prägten, zu erkennen glaube.
Verfasst im Jänner 2021 für das Projekt „Homeage“. Der Text wurde von der Autorin und Projekt-Initiatorin Katharina J. Ferner in der Salzburger Adalbert Stifter Straße eingelesen
Originaltext von Adalbert Stifter:
»Der Nachsommer« von Adalbert Stifter
1. Band: Die Häuslichkeit
Mein Vater war ein Kaufmann. Er bewohnte einen Teil des ersten Stockwerkes eines mäßig großen Hauses in der Stadt, in welchem er zur Miete war. In demselben Hause hatte er auch das Verkaufsgewölbe, die Schreibstube nebst den Warenbehältern und anderen Dingen, die er zu dem Betriebe seines Geschäftes bedurfte. In dem ersten Stockwerke wohnte außer uns nur noch eine Familie, die aus zwei alten Leuten bestand, einem Manne und seiner Frau, welche alle Jahre ein oder zwei Male bei uns speisten, und zu denen wir und die zu uns kamen, wenn ein Fest oder ein Tag einfiel, an dem man sich Besuche zu machen oder Glück zu wünschen pflegte. Mein Vater hatte zwei Kinder, mich, den erstgeborenen Sohn, und eine Tochter, welche zwei Jahre jünger war als ich. Wir hatten in der Wohnung jedes ein Zimmerchen, in welchem wir uns unseren Geschäften, die uns schon in der Kindheit regelmäßig aufgelegt wurden, widmen mußten, und in welchem wir schliefen. Die Mutter sah da nach, und erlaubte uns zuweilen, daß wir in ihrem Wohnzimmer sein und uns mit Spielen ergötzen durften.
Der Vater war die meiste Zeit in dem Verkaufsgewölbe und in der Schreibstube. Um zwölf Uhr kam er herauf, und es wurde in dem Speisezimmer gespeiset. Die Diener des Vaters speisten an unserem Tische mit Vater und Mutter, die zwei Mägde und der Magazinsknecht hatten in dem Gesindezimmer[5] einen Tisch für sich. Wir Kinder bekamen einfache Speisen, der Vater und die Mutter hatten zuweilen einen Braten und jedes Mal ein Glas guten Weines. Die Handelsdiener bekamen auch von dem Braten und ein Glas desselben Weines. Anfangs hatte der Vater nur einen Buchführer und zwei Diener, später hatte er viere.
In der Wohnung war ein Zimmer, welches ziemlich groß war. In demselben standen breite flache Kästen von feinem Glanze und eingelegter Arbeit. Sie hatten vorne Glastafeln, hinter den Glastafeln grünen Seidenstoff, und waren mit Büchern angefüllt. (…)
Ganzer Text: http://www.zeno.org/Literatur/M/Stifter,+Adalbert/Romane/Der+Nachsommer/Erster+Band/1.+Die+Häuslichkeit