Jedesmal, wenn wir am Bischöflichen Gymnasium und Internat in der Grazer Grabenstraße vorbei fahren, steckt mein Feund Konrad seinen ausgestreckten Mittelfinger aus dem Autofenster. Ich muss gestehen, ich liebe diese Geste. Mir selbst war meine Schule schon während der Schulzeit ziemlich egal, seitdem sowieso. Um so lustiger finde ich es, dass Konrad sich über all die Jahre seit der Matura die Mühe macht, das Autofenster runter zu kurbeln und mit verkniffenem Gesicht dem ehrwürdigen Prunkbau seinen Stinkefinger entgegen zu halten.
Offenbar hat sich in den acht Jahren seiner Internatszeit einiges an Aggressionen aufgestaut.
Diesmal kommen wir von einer Skitour aus der Obersteiermark zurück. Wir waren zu viert am Lugauer. Sensationeller Skitourenberg. Super Wetter. Recht lange Tour: 1700 Höhenmeter. Geri fährt, Konrad am Beifahrersitz, Ralf und ich sitzen hinten. Konrad hat schon längere Zeit nichts gesagt und sitzt zusammengesunken da. Wir fahren in der Grabenstraße bereits an „Caritas“ und „Brücke“ vorbei, es wird also langsam Zeit für Konrads Stinkefinger. Sicherheitshalber beuge ich mich vor und sage:
„Konrad! Vergiss nicht, den Finger“.
Er schreckt hoch, blickt verwirrt um sich, realisiert seinen Standort, kurbelt das Fenster hinunter und hat noch rechtzeitig seinen hochgereckten Finger draußen. Irgendwie fehlt aber der Enthusiasmus früherer Tage. Oder liegt es daran, dass er noch etwas schlafdamisch ist?
Ich saß mit meinen Eltern im Zimmer von Schwester Raphaela. Sie drehte sich zu mir und sagte in ihrer süßlichen Stimme: “ Wir werden gut auf Ihren Buben aufpassen. Du wirst sehen, es wird dir sicher gefallen bei uns.“ Ein kurzer Blick auf ihre Unterlagen, bevor sie hinzufügte: „Konrad“.
In diesem Augenblick, als mir die ausgedörrte alte Frau im schwarz-weißen Gewand versuchte zuzulächeln, schwoll mir ein Knödel im Hals, dass ich fürchtete, ersticken zu müssen. Erst als sie sich wieder weg drehte, war es mir möglich, weiter zu atmen.
Konrad hat noch rechtzeitig seinen Finger draußen, und Geri, Ralf und ich grinsen wie immer übers ganze Gesicht. Wir alle lieben unsere Gewohnheiten, aber ganz besonders lieben wir die verschrobenen Gewohnheiten unserer Freunde. Konrads Stinkefingerritual gibt mir das Gefühl, ihn wirklich zu kennen, besser als seine Eltern beispielsweise, die nichts davon wissen.
Meine Eltern und der Pfarrer unseres Heimatortes, der uns mit seinem Auto in die Landeshauptstadt gebracht hatte, gingen zum Ausgang. Ich stand da, unfähig, mich zu bewegen, unfähig, etwas zu sagen, und blickte ihnen nach. Ich sah meine Mutter, wie sie von mir weg ging, und mich mit knapp elf Jahren zurückließ in diesem großen fremden Haus, in dieser großen fremden Stadt, allein ließ unter 300 fremden Schülern, und der Abschiedsschmerz, den ich in diesem Augenblick empfand, war größer als jeder andere Schmerz, den ich in meinem Leben bis zu diesem Zeitpunkt verspürt hatte.
Konrad sitzt da, hält seinen Finger in die kalte Februarluft und blickt ins Leere. Woran denkt er, wenn er an diesem Gebäude vorbeifährt, in dem er acht Jahre seines Lebens verbracht hat? Eigentlich kenne ich Konrad nicht wirklich, weiß nichts über seine Vergangenheit, über seine Jugend, sein Aufwachsen. Gelegentlich gemeinsame Ski- oder Klettertouren, ab und zu ein paar Biere im Kommod, bei Studentenfesten nach durchkiffter Nacht Umarmungen und Beteuerungen ewiger Freundschaft. Aber was war davor? Was hat das Kind Konrad zu dem 25-jährigen Konrad gemacht, den ich kenne?
Er hieß Erwin, war der Sohn eines Fleischermeisters und Gastwirtes aus der Weststeiermark. Dass er zuhause bis zum Eintritt ins Internat reichlich Fleisch bekommen hatte, war ihm deutlich anzusehen. So dick und rund und rosig glänzend war Erwin, dass er in der Auslage der elterlichen Fleischhauerei als Ausstellungsstück gute Figur gemacht hätte. Als knapp Elfjähriger wog Erwin bereits 60 Kilogramm, ein Brocken von einem Kind war er. Versteckt hinter dicken rotglänzenden Wangen kullerten gehässige braune Schweinsäuglein. Die feuchten fleischigen Lippen umspielte das dauerhafte Lächeln des Tyrannen. Erwin wusste ganz genau, dass keiner von den Primanern gegen ihn ankam. Er war der mit Abstand Größte in unserer Klasse. Er war stärker, schwerer und gemeiner als alle anderen. Dementsprechend kuschten alle vor ihm, und er genoss es, aber er genoss es mit einem gelangweilten Lächeln. Und wenn ihn seine Position der Allmacht allzu sehr langweilte, verprügelte er mich.
Warum Erwin gerade mich als seinen „Spielball“ ausgewählt hatte, war nicht ganz klar. Vielleicht lag es nur daran, dass wir zufällig zur gleichen Zeit gekommen und daher demselben Zimmer zugewiesen worden waren, wo ich in Erwins Schweinsaugen sogleich ein gehässiges Aufblitzen zu sehen vermeint hatte? Oder lag es vielleicht auch daran, dass Erwin mich nicht nur wegen meiner körperlichen Schwäche verachtete, wegen meiner dünnen Arme und Beine und meines Babyspeckrestes, der sich als Schwimmreifen um den Bauch und kleiner Bubenbusen manifestierte, sondern auch wegen meiner ärmlichen Verhältnisse? Die beiden Dinge, die in Erwins Universum etwas galten, waren Kraft und Geld, und beides besaß er reichlich. Sowohl physische als auch materielle Stärke.
Ich erinnere mich an eine Situation in der ersten Klasse. Es war Donnerstag und gerade Pause zwischen dritter und vierter Stunde. In der dritten Stunde hatten wir unsere Deutschschularbeiten zurück bekommen. Ich hatte wieder einen Einser, Erwin wieder einen Fleck. Erwin war stärker, reicher, gemeiner, aber der Schlauere von uns beiden war eindeutig ich. Das war neben meiner körperlichen Schwäche und meiner ärmlichen Herkunft ein weiterer Nachteil, denn Erwin fühlte sich leicht provoziert.
„Konradburli, was lachst du denn so deppert, wenn ich einen Fleck von der Lehrerin zurück bekomm?“
„Aber ich hab doch überhaupt nicht gelacht“, sage ich, wissend, dass es nutzlos ist.
„Aber sicher hast du gelacht, wir haben’s doch alle gesehen. Oder, Schober?“
Der angesprochene Schober, ein kleiner Unscheinbarer, mit dem ich mich recht gut verstehe, sieht mich entschuldigend an und nickt.
„Was sagst du?“ sagt Erwin und greift sich an die Ohren, „ich kann dich nicht hören.“
„Ja, der Konrad hat gelacht, als du deinen Fünfer zurück bekommen hast“, murmelt Schober mit gesenktem Blick.
Komisch. Ich weiß, ich werde jetzt gleich Dresche kassieren, dennoch empfinde ich Mitleid mit Schober.
„Siehst du“, sagt Erwin, „sogar der Schober hat gesehen, dass du gelacht hast.“
„Na ja, dann wird’s wohl stimmen“, will ich sagen, aber da schlägt mir Erwin schon mit dem Handballen ins Gesicht. Meine Brille fliegt davon, meine Nase beginnt zu bluten. Ich gehe auf die Knie, um die Brille zu suchen. Die Tür geht auf, der Religionslehrer betritt die Klasse.
„Hanfbauer, was tust du da am Boden?“
„Ich suche meine Brille.“
„Und wieso blutest du dabei aus der Nase?“
„Der Erwin hat mich geschlagen.“
„Stimmt das, Ebenstein?“
„Nein“, sagt Erwin.
„Ach, mit euch ist das ein ewiges Gfrett. Könnt ihr euch nicht wie zivilisierte Menschen benehmen? So, jetzt schlagen alle das Religionsbuch auf Seite 24 auf. Du auch, Hanfbauer, wenn du deine Brille gefunden hast.“
In dem Text auf Seite 24 geht es um Nächstenliebe.
Das Bischöfliche Gymnasium und Seminar ist vorbeigezogen, Konrad kurbelt das Autofenster wieder hinauf. Durch die aufgewirbelte Luft und die Frischluftzufuhr bemerken wir, wie schlimm es im kleiner 205er von Geri stinkt. Vier verschwitzte Erwachsene und acht verschwitzte Skitourenschuhe im durchladbaren Kleinwagen geben schon was her.
„Hab ich euch eigentlich mal erzählt, was mir in der Zeit im Bischöflichen am meisten gestunken hat?“ fragt Konrad vom Beifahrersitz.
An einem lauen Maiabend in meinem dreizehnten Lebensjahr saß ich in der hintersten Bankreihe der Internatskirche im Dämmerlicht und weinte. Ich befand mich am Beginn der Pubertät, war noch mehr Kind als Jugendlicher, und hatte mir meinen tiefen kindlichen Glauben bewahrt. Ich glaubte an Gott und die heilige katholische Kirche, aber unreine Gedanken hatten sich seit kurzem in meine Träume geschlichen und stellten meine Unschuld auf eine harte Probe. Mit dreizehn war nichts mehr so einfach wie mit zwölf. Ich hatte begonnen, zu sündigen. Richtig zu sündigen, nicht eine kleine Notlüge hie oder da. Die große Sünde hatte ich begangen, vor der uns sowohl der Regens des Internats, als auch der Spiritual und die Präfekten bei Einkehrtagen wiederholt gewarnt hatten, die furchtbare Sünde hatte ich begangen und ich hatte es genossen. Selbstbefriedigt hatte ich mich, und ich litt unter meinem schlechten Gewissen, vor allem, weil ich die Sünde selbst so ausgekostet hatte. Mein einziger Trost – und Linderung meines schlechten Gewissens – war die Tatsache, dass ich meine Verfehlung alleine begangen hatte, mir nicht dabei hatte helfen lassen von einem Klassenkameraden, was laut unserer Erzieher auch vorkam, mir selbst aber unvorstellbar und in keinster Weise wünschenswert erschien. Ich war ein schwabbeliger 13-Jähriger, verabscheute meinen dicken weißen Körper und empfand schon das gemeinsame Duschen nach dem Turnunterricht als unerträglich peinlich. Mich dabei beobachten zu lassen, wenn ich an meinem Zipfel herumrubbelte, verursachte bereits in der Vorstellung Magenschmerzen. Nein, so weit war es nicht gekommen. Aber das war ein schwacher Trost. Ich glaubte an Gott, ich glaubte daran, dass er alles sah, und ich glaubte unseren Erziehern, die behaupteten, dass Selbstbefriedigung eine der größten Sünden sei. Ich hatte also gesündigt, Gott hatte es gesehen, und mein einziger Wunsch war, mich wieder rein zu waschen. Und genau das hatte ich eben getan. Ich hatte gebeichtet, und der Priester im dunklen Beichtstuhl hatte mir wider Erwarten die Absolution erteilt. Ich war überglücklich, ich war so froh, von dieser Last, dieser Bürde, dieser Schmach befreit zu sein, dass ich mich unmittelbar nach der Beichte in die hinterste Reihe der Internatskirche setzte und vor Erleichterung und Dankbarkeit weinte.
„Zwischen der heutigen Skitour und meiner Matura liegen mehr als sieben Jahre, das heißt, diesen Abend in der Internatskirche habe ich vor etwa zwölf Jahren erlebt.“ Konrad lockert seinen Gurt und dreht sich zur Seite, damit wir ihn besser verstehen können. „Es ist mir nahezu unmöglich, zu glauben, dass das wirklich ICH war, der damals in der Kirche saß und weinte. Der Gedanke an dieses verwirrte und von schlechtem Gewissen geplagte Kind hat so gar nichts mit mir als Erwachsenem zu tun. Die römisch-katholische Kirche hat keinerlei Einfluss mehr auf mein Leben, und auf die Art und Weise, wie ich es gestalte. Wenn ich heutzutage Lust danach habe, masturbiere ich, und ich genieße jedes einzelne Mal, und ich genieße es vor allem ohne schlechtes Gewissen. Und damals? Damals weinte ich vor Dankbarkeit, weil Gott mir diese furchtbare „Sünde“ verziehen hatte. Versteht ihr? Die Einflüsterungen unserer Erzieher bezüglich Selbstbefriedigung haben mich schlaflose Nächte gekostet, haben mich leiden lassen, so sehr, dass ich in dieser Kirche saß und weinte, weil mir diese Sünde verziehen worden war. Wenn ich nur daran denke, spüre ich wieder den alten Hass in mir aufsteigen.“
Konrad schluckt, setzt sich wieder gerade hin, stiert durch die Windschutzscheibe.
Während meines vierten Jahres im Internat schaffte das BischGym in der Adventzeit den Sprung auf die Titelseite der Kronenzeitung.
„INTERNATSSCHÜLER SPRINGT IN DEN TOD“ lautete die Schlagzeile. Darunter war ein Foto von Erwin zu sehen.
Ich lernte daraus zwei Dinge.
Erstens: Glaube nie, was in der Kronenzeitung steht. Erwin war zwar tatsächlich gesprungen, aus dem vierten Stock noch dazu, aber es hatte nicht ausgereicht. Während die Kronenzeitung mit seinem kolportierten Tod die Auflage hinauf schraubte, lag Erwin im LKH im Koma und kämpfte mit ihm. Vierzehn Wochen dauerte der Kampf, und wie so üblich bei Kämpfen hieß der Sieger Erwin. Nach diesen vierzehn Wochen war er „über dem Berg“, wie man so sagt. Insgesamt verbrachte er aber acht Monate im Krankenhaus und musste unzählige Operationen über sich ergehen lassen. Als er es wieder verlassen durfte, war klar, dass sich seine schulische Leistungsfähigkeit durch den Aufprall am Lehrerparkplatz nicht verbessert hatte, und er wechselte in eine Hauptschule im Bezirk Deutschlandsberg, wo er die vierte Klasse wiederholte. Ich habe ihn seit dem Tag seines Selbstmordversuchs nicht mehr gesehen.
Das Zweite, was ich daraus lernte, klingt kitschig, aber es ist trotzdem wahr: Du kannst Macht besitzen, Kraft besitzen, und noch so viel Geld, nichts davon kann Liebe ersetzen. Ich war klein, schwach, dick und stammte aus ärmlichen Verhältnissen, aber ich hatte Freunde im Internat, die mich trotzdem, die mich also wirklich mochten. Erwin hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen, nur einen hingekritzelten Satz im Klo, aus dem er gesprungen war:
Kainer mag Mich!
„In dem monatlichen Betrag, den Sie zu zahlen haben, ist alles inkludiert“, hatte Schwester Raphaela gesagt. „Neben der Unterbringung im Internat und den drei Mahlzeiten täglich gibt es außerdem noch für die Erstklässler abends eine Gute-Nacht-Geschichte, zwei Mal eine Jause, die hauseigene Wäscherei, und natürlich die pädagogische Betreuung und religiöse Erziehung Ihres Sohnes rund um die Uhr. Das alles in einer Atmosphäre der Liebe und Brüderlichkeit. Natürlich kostet das viel mehr, als Sie bezahlen, aber für den Restbetrag kommt die Diözese auf, da wir doch große Hoffnung in unsere Knaben setzen, was den Priesternachwuchs angeht.“
„Hab ich euch eigentlich schon von den Ausgreifereien erzählt?“ fragt Konrad, „und von Roberts Alkoholvergiftung während der Exerzitien in der 7. Klasse, und von Patricks Ladendiebstahl bei der Romreise, und dass Oliver in der 8. Klasse von der Schule geschmissen wurde, nur weil er einmal um drei in der Früh beim Einsteigen durch den Physiksaal erwischt wurde? Fünf Wochen vor der Matura von der Schule verwiesen. Diese Schweine.“
Wir drei schütteln den Kopf. Unser heutiges Ziel ist der Kerschkernkogel im Triebental. Wir fahren soeben am Nordrand von Graz auf die Autobahn auf. Es ist angenehm, um halb sechs Uhr morgens im warmen Auto von Geri zu sitzen, nicht sprechen zu müssen, sich auf eine Skitour zu freuen, und nebenbei einen Freund besser kennen und verstehen zu lernen.
„Dann schieß mal los, Konrad“, sage ich, lehne mich zurück und schließe die Augen.
© 2002 Karl Hofbauer
erschienen im Herbst 2002 auf der Website des Radiosenders FM4