Lolita

Neulich habe ich Lolita gegoogelt, nicht die kindliche Verführerin Nabokovs, sondern die Schlagersängerin mit der angedunkelten Stimme, die einem nicht näher genannten Seemann empfiehlt, das Träumen zu lassen.

Hand aufs Herz: ich hatte mir keine paus- und pobäckige Vierzehnjährige erwartet, aber eine Trüm­merfrau Anfang dreißig, die notdürftig aufgebrezelt in einem viel zu steifen, auch noch die Knie verdeckenden Kleid steckte, als käme sie gerade vom Besuch der Heiligen Messe, das hat mich dann doch enttäuscht. Eine Zarah Leander für Pfadfinder! Ein Bild war zerplatzt, das ich seit jenen Tagen mit mir herumtrug, an denen ich begonnen hatte, mir Lieder zu mer­ken. Lolita, ein unverzichtbarer Teil meiner musikalischen Muttermilch, musste neu gebootet werden.

Eines war mir schon immer klar gewesen: nicht der Seemann träumt in diesem Lied, sondern Esther Einzinger aka Lolita. Sie tut dies stellvertretend für alle Nachkriegsfrauen, die damals inmitten von  Kriegserinnerungen, verblassendem Christentum, Babyboom und Hausbau von Fernweh ergriffen wurden, was man heute viel treffender als Hausfrauen-Blues bezeichnen würde. Aber den Seemann, den musste ich neu überdenken, wobei mir sofort auffiel, dass ich gar keinen solchen in natura kenne. Mein Basiswissen über Seeleute stammt von Hans Albers, Freddy Quinn und Lolita, mein Aufbauwissen von den Jörn-Farrow-Heften meines Vaters, von Jules Verne und Herman Melville.

Wie es aussieht, haben Seeleute einen Drang hinaus aufs Meer, dem sie nicht widerstehen kön­nen. Deshalb kommen sie auch nur selten zurück, und wenn doch, fahren sie gleich wieder fort. Eigentlich Hallodris, werden sie doch von Frauen und Müttern geliebt, auf so tragische Weise natür­lich, dass nur mehr wehmütige Lieder Trost spenden können. Und da fragt man sich: in einem Land voller Tragödien aus einem verlorenen Weltkrieg, wozu in so einem Land auch noch die Seemanns-Tragödie?

Meine Antwort: Weil die Kriegs-Tragödien keine Lieder haben. Sie waren zu schrecklich, um noch besungen werden zu können. Also besang man stellvertretend für all die Soldaten den Seemann, der, getrieben von einer schicksalshaften Macht, hinausfährt und nicht wiederkehrt. Nach Rio und Shanghai, nach Bali und Hawaii, also an die schönsten Orte der Welt, was soviel heißt wie: ins Paradies. Er kommt nicht wieder, aber es geht ihm gut: das tröstet. Gut gemacht, Lolita.

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