Persephone

Im steckengeblieben Lift eines großen Kaufhauses machte ich neulich Bekanntschaft mit einem Herrn mittleren Alters, der mir, während wir auf unsere Befreiung warteten, vom traurigsten Lied der Welt erzählte. Dieses stamme aus Ungarn, sei u.a. unter Gloomy Sunday bekannt und habe zahlreiche Menschen zum Selbstmord animiert. Mich nicht. Ich fand es nicht einmal besonders ergreifend.

Bei den Herzzerreißern, so scheint mir, hat jeder seinen eigenen. Und auch diesen einen nicht für immer. Mein erster Lebensabschnitts-Trauersong hieß Theme for an Imaginary Western in der Version von Mountain. Ich glaubte damals noch an eine Seele und stellte mir vor, wie die meinige in die Morgensonne entschwebte, während weit unter ihr junge Menschen mit großen Erwar­tun­gen auf buntgeschmückten Pferdewägen gegen Westen zogen, um niemals dort anzukom­men.

Doch kürzlich, so scheint es, ist mir ein neuer LATS ins Gehirn gekrochen: Persephone von Wishbone Ash, live im Rockpalast 1976. Bei diesem Song berührt mich alles, das laute Wehklagen, vermischt mit Restbe­ständen von Jubel aus besseren Tagen, die Erzählung einer großen Kränkung, ohnmächtiges Aufbäumen und am Schluss, wenn nichts mehr zu sagen ist und die Stimme bricht, Töne, die wie Tränen tropfen.

Persephone war, wie die Altphilologen wissen, die Göttin von Wachstum und Blüte, bis Hades sie verliebterweise zu sich in die Unterwelt entführte. Die Folge: ewiger Winter auf der Erde, woraufhin Zeus mit Hades die Jahreszeiten ausschnapste. Der Song von Wishbone Ash handelt wohl von jenem allerersten Winter. Martin Turner, Bassist, Master­mind und Songwri­ter der Aschenboys, wurde offenbar verlassen, etwas, das des Öfteren seinen Werdegang trübte. Aber nur dieses eine Mal war er so getroffen, dass dem ein bombastischer ­­­­­­­­­­­­­­­Trauersong entfloss.

Als 1969 sein Bruder ausgestiegen war, hatte er doppelt Ersatz gefunden: mit Ted einen Leadgitarristen, der auch Turner hieß und romantisch war wie er, und mit Andy Powell einen zweiten, der singen konnte wie er. Und mit beiden ein Duett, das Musikgeschichte schrieb, mit Songs über Könige, Krieger und Pilger. Bis eines Tages Ted befand, er wolle selber so ein Pilger sein und allein die Welt bereisen. Offenbar war ihm nicht bewusst, welch einzigartiger Band er damit den Boden unter den Füßen wegzog. Martin hingegen wusste, dass damit die goldenen Jahre vorüber waren, obwohl ihm schon bald mit Laurie Wisefield ein würdiger Ersatz zur Seite stand. Martins Welt, Wishbone Ash, stand vor einem Winter, der analog zu Perse­phone erst enden würde, wenn Ted zurückgekehrt war. Elegisches Solo. I can’t believe the curtain has to fall. Und ab in den Suizid, August.

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