von Isolde Kerstin Bermann
So wirklich gesagt haben sie es uns nicht. Weil: sie denken: zu klein. Zu dumm. Zu nah dran. Wir aber wissen es ohnehin. Man sieht es doch. Ihr Gesicht ohne Farben, ihre Stimme so mager. Hände, die nichts festhalten können. Wir fragen nicht. Du fragst nicht, weil: du wirklich noch sehr klein bist. Aber deine Blaukugelrundaugen sind jetzt noch runder. Du isst zuviel Karotten und Paprika. Ich frage nicht, weil: ich keine Antworten will. Keine Sätze, die sich um das Unaussprechliche winden wie bunte Papiergirlanden. Wie Ketten aus rosa Traubenzucker. Die dann aber abfallen, sobald ihr euch umgedreht habt.
Nichts warnt euch, als wir in den Wald gehen wie Hänsel und Gretel. Weil wir keine Brotkrumen hinterlassen wollen, damit wir gefunden werden. Beim Lebkuchenhaus schnappen wir uns die Hexenkatze und hauen ab. Die Schwarzfellige mit den grünen Glutaugen vom Rücken der Zauberalten kommt mit uns. Tief in den Korb gegraben.
Wir streicheln das Fell der Hexenkatze gegen den Wuchs und finden nach Hause zurück. Wir zeigen sie her. Die Hexenkatze benimmt sich und lässt sich zu ihr ins Bett legen. Sie lächelt und es riecht nach Sommer. Atmet ins Fell aus dem es duftet, fällt über die Katzenschönheit her, die sich freischlängelt und in eine Ecke setzt. Der Zauber weht davon.
Sie ist ins Kissen zurückgesunken, hat die Augen geschlossen. Ihre Hand sucht nicht mehr nach Fell und Liebkatzenmäulchen. Die Grünäugige träumt sich auf leisen Pfoten davon und miaut sich draußen etwas zu fressen herbei.
Wir müssen eine andere bringen, sagst du, jungdummer Bruder, aber süß doch auch. Wir können nicht jeden Tag eine Katze für sie stehlen, sage ich und entwerfe schon den nächsten Plan.
Er kommt nach Hause und scheucht uns ins Bett.
Am nächsten Morgen wissen wir: es muss ein anderer Zauber sein. Mit demselben Zauberwesen.
Wir holen seinen Laptop vom Schreibtisch fort. Holen ihn herein in unsere plastikbunte Spielwelt, die nichts mehr bedeutet. Auch du weißt schon, wie man sucht. Wie man findet.
So zaghaft heben wir den Computer hoch, als könnte etwas herausfallen. Als könnten sie herauspurzeln, die Putzigen. Bevor sie sie gesehen hat. Bevor der Zauber wirken kann.
Sie ist wach. Schaut mit Munteraugen auf uns. Schickt ein Tapferlächeln herüber. Sagt weichstimmig Guten Morgen, meine Schätzchen. Das drückt sogleich die Kehle nach innen, dieses Schätzchenwort. Schnell ein Blick zum wirklich noch zu kleinen Bruder. Strahlt, das Dummchen, schaut kugelrund und hoffnungslos leuchtblau. Sagt das M-Wort, sagt es so von ganz tief innen, dass ich ihn treten muss, weil sonst ….
Hey, kommt her. Sagt sie. Nicht streiten. Ihre Hand hebt sich von der Bettdecke, gleich will sie herfliegen zu mir, KopfundHaarestreicheln, Zopf binden, Pulli zurechtrücken, Jause einpacken. Doch fällt sie wieder, fällt so weich zurück.
Was habt ihr denn da. Ach, die Stimme. Sie klettert so mühsam hoch, hält ein bisschen die Luft an, sinkt abwärts federgleich.
Wir klettern neben sie, du links, ich rechts. Heben den Laptop so behutsam auf ihren Bauch. Nichts darf sie davon spüren. Nichts darf weh tun.
Ah, ihr wollt mir was zeigen. Reizend von euch. Müsst ihr nicht …
Nein! Rufst du. Du kleinkluger Bruder.
Nein! Rufe ich. Wir haben heute keine Schule.
Er ist früh gegangen. Keine Jause, keine Ermahnung, keine Blicke. Er ist versteinert, angehaucht vom Atem des Basilisken.
Du darfst den PIN eingeben. Du darfst das Erste aussuchen. „Funny cats compilation 2020“. Und dann:
Sie schaut, hebt ein wenig den Kopf, die Nichtmehrhaare streiche ich ihr von den Augen. Damit sie alles sieht. Kissen bekommt sie, noch mehr Kissen.
Erst kommt ihr Lächeln zurück. Von so weiter Ferne. Dann gluckst sie. Wie sie rutschen, fallen, stolpern, mit Staubsaugern mitfahren, in die Wanne plumpsen. Wie sie schlafende Babys in ihren Wippen wiegen, wie sie Hunde jagen, an Glasscheiben tapsen, auf Vorhängen turnen.
Und ja: der Zauber, er wirkt. Denn: sie lacht. Sie lacht so sehr, dass ich meine blöden Tränen an der Wange spüre. Schnell fortgewischt. Mitgelacht. Du Kleinbruder, wie du quieken und kichern kannst, dich im Bett krümmen, dir den Bauch halten. Und da: ihre Arme, die sich heben, die um unsere Schultern schweben und dann landen.
Du sagst: mehr! Es gibt noch viel mehr!!
Und wieder bist du es, der aussuchen darf:
„Lustige Katzenvideos“. Und klick. Ich seh ihre Leuchtaugen. Streiche über ihren Mützenkopf. Schmiege mich an ihren Dünnkörper. Kann kaum atmen. Lache aber mit.
Wo ist denn die liebe Katze von gestern, fragt sie. Sie hat so gut gerochen. Nach Marzipan irgendwie. Nach Lebkuchen.
Sie war ausgeborgt, sagst du und ziehst deine gelachten Tränen durch die Nase nach oben. Schnaubst wie ein ausgestorbenes Tier.
Ach, sagt sie. Wie lieb von euch. Leider können wir ja wegen Martin ..
Ja, ja, sage ich und meine Stimme wird scharfschroff, kantig, soll reißen, weh tun, niemals ihr, nur ihm, dem …
So eine Allergie ist sehr unangenehm, Liebes, sagt sie mir und ich spüre rote Wolken, die sprühen wollen, die ihn wegsprühen wollen. Ihr habt doch gesehen, wie er hustet und ..
Schau, rufst du. Wir haben es nicht bemerkt, doch du hast schon auf „Geniale Katzenvideos, 2018“ geklickt. Und uns fortgebracht aus katzenallergischen Erinnerungen und mich fortgespült von grellroter Wut. Weil er fortmusste, wegen ihm, der mit uns im Bett lag, der Immerfortschnurrer, der Mondmiauer, der Bartspitzenkitzler, der Weichfeller, der wunderschönste Kater der Welt. Der ihr Herz ein Stück weit mit sich gezogen hat, fortgetragen im Katzenkorb.
Ihre Arme fallen von unseren Schultern wie gebrochene Flügel. Aber immer noch ist das Lachen auf ihrem Gesicht. Doch ihre Augen nur mehr halb offen.
Meine Schätzchen, ich bin jetzt ein bisschen müde, sagt sie. Wir schauen später weiter, ja?
Aber du, was brüllst du da, du winzigkleiner Bruder, dreimal dumm, und, ach hätte ich dich nur der Lebkuchenhexe dagelassen! kreischlaut. Du schreist: bitte!! nur noch das eine Video „Lustige Katzenvideos zum Totlachen!“