Von
Isolde Elisa Bermann
Sie verlassen die Hauptstraße und biegen in einen schmalen asphaltierten Weg, vorbei an müden Gärten und vereinzelten Häusern, die sich in die rötliche Erde ducken. Weiter und weiter verästelt sich die Straße, wird schmäler, holpriger. Die Landschaft ist flach, Schilf und Oleander, kaum mehr blühend, fächern im Wind. Sie überqueren eine Holzbrücke, folgen nun einem Schotterweg, der sie zwischen Pinien und in der Abendsonne blinkenden Lagunenseen nach Süden führt.
Der Campingbus holpert unwillig über den Damm, dessen Schlaglöcher mit braunem Regenwasser gefüllt sind, hellgrün die Schirme der Pinien, schlank stehen sie eleganten Damen gleich, sich schützend.
Das kann nicht der richtige Weg sein, sagt sie und hält sich fest, als der Wagen bockig über Wurzeln ins Innere des Waldes rollt.
Er nickt lächelnd, doch, sagt er. Du wirst sehen.
Äste schaben und kratzen über den Lack, der Pfad hat sich aufgelöst. Die Pinien stehen locker gestreut auf braunnadeligem, weichen Boden. Er hält an. Schau, sagt er.
Sie sieht die Düne.
Dahinter ist es.
Sie steigt aus, atmet den würzigen Duft der Nadeln, hört nichts als das Zirpen der Zikaden. Dann läuft sie los, aus dem Schutz der Bäume, über den sandigen Boden, auf die Düne zu. Ihre Füße werden schwer, sie sinkt ein, wird langsamer, der Sand hält sie fest, macht sie schwerfällig. Ungeduldig geht sie weiter. Dann das Blau. Weich schlagen die Wellen ans Ufer, bilden kleine schaumige Inseln auf braunem Sand.
Sie läuft das Ufer entlang, die Sandalen in der Hand. So wenig, denkt sie. Nur der Horizont, das Meer, der Sand und der breite Saum grüner Kuppeln, der sich in der Ferne verliert.
Wir sind völlig allein, ruft sie, als sie zu ihm zurückkehrt. Er hat den Bus unter einem riesigen Baum geparkt. Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass wir im Sand versinken, sagt er.
Nein, nicht ganz allein, übrigens. Er zeigt nach Norden.
Ein hellblauer VW-Bus schmiegt sich in eine flache Mulde. Eine Wäscheleine ist gespannt, Campingstühle stehen dem Meer zugewandt.
Ah, gut, lacht sie. Es war mir schon fast ein bisschen zu einsam hier.
Sie läuft ins Wasser, das warm ist und sanftwellig, kaum bewegt sie Arme und Beine, lässt sich treiben, lässt sich sinken, taucht wieder auf. Haarsträhnen kleben salzschwer an ihren Wangen, sie lässt sich ans Ufer spülen. Als sie über die Düne steigt, sieht sie den hellblauen Bus vor sich, im Campingsessel eine Frau mit kurzen weißen Haaren.
Ein Lächeln kommt ihr entgegen, die Haare sind auf halber Stirn kerzengerade abgeschnitten, ein Büschel steht am Hinterkopf hoch.
Hallo, sagt sie, ein feiner Platz ist das hier, nicht?
Blaue Augen, weit offen, als staunten sie fortwährend, sehen sie an. Das Lächeln sinkt tiefer ins Gesicht.
Oh ja, wunderbar.
Die Anmut der alten Frau verzaubert sie, legt den Abend in weichen Wellen um ihren Körper, sie hockt sich in den Sand, in einiger Entfernung als dürfe sie eine unsichtbare Schwelle nicht übertreten. Wann sie angekommen seien, fragt sie weiter.
Das wisse sie nicht genau, lächelt die Frau.
Nein?, fragt sie nach und lacht auf. Hier vergisst man einfach die Zeit, das verstehe ich.
Unvermittelt richtet sie sich auf und winkt zum Abschied,
Die Dämmerung kommt schnell. Sie sitzen vor dem Bus, essen Käse, Oliven und Tomaten. Die Luft ist satt, streicht wie eine weichfellige Katze um sie. Er reicht ihr trockenes weißes Brot. Wie schnell das immer geht, lacht sie, heute Morgen war es noch ganz weich.
Es ist so schön, dass man Angst hat, es könnte nicht real sein, sagt sie leise. Sie haben Kerzen angezündet, lassen sich auf das Spiel des Windes ein, der sie immer wieder zum Verlöschen bringt. Sie sehen der schief gewachsenen jungen Schirmpinie zu, wie die hereinbrechende Nacht sie in einen Scherenschnitt verwandelt.
Es sind Deutsche, sagt sie und deutet zum blauen Bus hinüber. Und? Fragt er. Hast du jemanden gesehen? Ein reizendes, altes Paar, sagt sie. Ihn hab ich aber nicht gesehen. Sie machen kein Licht da drüben.
Etwas fällt auf ihr Brot, dann – plötzlich –ist sein weißes T-Shirt mit schwarzen Flecken übersät. Überrascht schreit sie auf. Im Schein der Taschenlampe sehen sie es. Fliegende Ameisen, die aus der Dunkelheit fallen.
Es werden mehr, träge Tiere, sich paarend. Er erschlägt sie. Sie hört auf zu essen. Duckt sich, als etwas über sie fliegt, etwas Größeres, ein Vogel vielleicht.
Fledermäuse, lacht er. Unser Paradies hat ein paar Sprünge.
Ein Windstoß löscht die Kerzen. Sie bleiben im Dunkeln sitzen, die einzelne Pinie weit vorne am Strand zeichnet sich noch eine Weile vor dem Horizont ab bevor sie in die Nacht schmilzt.
Leise unterhalten sie sich. Über die gefährliche schmale Bergstrecke, die sie an diesem Tag gefahren sind. Über die gleißenden Marmorwürfel im Steinbruch der Stadt am Golf. Über ihren Spaziergang in den schmalen Gassen, sich an die Hausmauer pressend, wenn ein Auto durchfährt. Der kleine Löffel im Milchschaum des Cappuccino auf dem runden Tisch im Straßencafe. Die alten Männer, aufgereiht wie Holzkugeln, deren Farbe abblättert, vor pastellfarbenen Häusern auf kleinen Piazzas. Und die Kirche, in deren Innerem ein junger Mann alte Fresken freipinselt.
Als sie schweigen, macht die Stille sich breit, ab und zu trägt der Wind die Stimmen der Beiden heran, die wie sie am Strand sitzen, ebenso wie sie nun im Dunkeln.
Komm schlafen, sagt er und steht auf. Sie geht ins Bad, wäscht sich das Gesicht, cremt spannende Haut ein, putzt Zähne, lässt ein leichtes Nachthemd über ihren Körper rieseln. Er liegt schon im Bett, die Leselampe senkt ihr Licht auf braune Haut, Buchseiten leuchten. Als sie herankriecht, löscht er das Licht, legt einen Arm unter ihren Kopf, fühlt ihre Anspannung.
Ich hab die Kette vorgelegt, keine Angst.
Hab ich nicht, sagt sie. Nicht hier. Nicht mit diesem alten Paar da drüben.
Sie wacht auf. Die Dunkelheit ist grün. Ein rotes Licht blinkt. Erst versteht sie nicht. Das Nachthemd klebt an der Haut. Sie schlägt die Decke von den Füßen, dreht sich. Atmet nicht. Doch dann. Sie versteht. Das grüne Licht kommt vom Kühlschrank, es ist blass. Das rote Blinken zeigt an, dass die Türen des Campingbusses verschlossen sind. Es ist gut. Nichts ist anders.
Sie erwacht wieder. Die Stille ist eine wirkliche Stille. Eine Stille, in der nichts sonst mehr Platz hat. Was, wenn doch? Wenn es doch ein Geräusch gäbe? Wenn es ein Geräusch gäbe, das hier nicht sein dürfte? Ein Schaben. Da ist ein Schaben, ein Wischen. Sie atmet nicht. Dreht sich. Da ist das Schaben wieder. Von ihr selbst verursacht. Sie lacht leise auf. Es ist gut. Es gibt keine Geräusche. Sie streckt ihren Arm zu Seite, die ruhig auf dem sich kaum merklich bewegenden Körper liegen bleibt.
Sie zieht behutsam das Rollo am Seitenfenster hoch. Draußen das Schwarz. Was, wenn ein Licht schiene? Sie versucht, sich zu erinnern, in welcher Richtung der blaue Bus steht, zieht die Beine unter der Decke hervor, hebt sie, zieht sie an, richtet sich auf. Rot blinkt die Anzeige am Armaturenbrett. Sie gleitet vom Bett, geht leise nach vor, schiebt die Innenjalousie an der Windschutzscheibe beiseite. Schwärze. Was hast du erwartet. Ein hell erleuchtetes Etwas da draußen?
Was tust du, fragt er und dreht sich von ihr ab. Ich suche meine Brille, flüstert sie. Du spinnst. Schlaf jetzt.
Sie wacht auf, weil etwas ihr den Atem nimmt. Au, sagt sie. Entschuldige, aber ich muß mal raus. Raus? Sie ist hellwach. Du kannst doch hier … im Wagen? Leise klickend entriegeln sich die Türen, er schiebt die Seitentür auf, stolpert in die Nacht. Beeil dich, flüstert sie. Als er wieder zurückkommt, hat sie sich auf seine Seite gerollt.
Die Stille ist unberechenbar. Jeden Moment kann ihre Tarnung fallen. In jedem Augenblick kann sie anders klingen. Mit jedem Atemzug, noch bevor er zu Ende ist, kann etwas hörbar werden. Sie versucht, nicht zu Ende zu atmen, um diesen Moment nicht zu verpassen. Sie liegt auf dem Rücken, kerzengerade, die Beine ausgestreckt, ihre Füße berühren die glatte Innenseite des Busses. Wenn ich nicht atme, kann sich auch nichts verändern, denkt sie.
Ich werde wachen bis zum Morgengrauen. Dann schlafen. Ich werde wachen, bis sich am Dachfenster der orangefarbene Strich zeigt, wie jeden Morgen die Sonne ankündigt, den Tag, einen weiteren Tag in der Kette endloslanger Urlaubstage. Sie sieht ins Wageninnere, das fahle Grün lässt die Tür zum Bad erkennen, weiter vorne blinkt. Nein. Nichts blinkt. Sie hebt den Kopf, doch das rote Blinken am Armaturenbrett ist nicht da. Er hat vergessen, den Wagen zu verriegeln, denkt sie. Es atmet neben ihr, es atmet laut. Nein, nicht wecken. Nicht wieder diese Stimme hören, wie sie jede Nacht zu hören ist. Dieses Genervte. Diese kleine Kälte. Sie darf nachts nichts mehr tun. Weder sprechen. Nicht ihre Brille suchen. Nicht lesen. Nichts von Angst sagen. Nichts tun, was seinen Schlaf stören könnte.
Der Wagen ist nicht verriegelt. Sie wird wachen.
Sie wacht auf. Sofort sieht sie nach dem orangefarbenen Strich am Dachfenster. Doch alles ist dunkel. Zu früh. Zu früh aufgewacht. Sie sieht durch den schmalen Spalt, den die heruntergelassene Rollo freigibt. Schwärze. Zu früh. Zu früh. Sie legt ihre Hand auf den sich kaum merklich bewegenden Körper an ihrer Seite.
Keine Wölbung. Nichts Festes. Zu niedrig, zu weich. Nichts. Ihre Hand liegt auf der Decke. Sie tastet nach dem Lichtschalter der Leselampe. Doch sie weiß es schon davor. Im Wagen ist es frisch und kalt. Die Schiebetür ist offen. Sie schlüpft aus der Decke, rutscht vom Bett und ruft leise in den dunklen Spalt.
Hey, bist du da draußen? Soviel hast du doch gar nicht getrunken?
Die Stille ist eine vollkommene Stille.
Nur später macht sie Platz. Dem Schrei. Sein Körper liegt mit dem Gesicht nach unten im Sand. Das Licht im Wageninneren erreicht gerade noch das Dunkle um seinen Kopf.