Text von Peter

Die man sich nicht aussuchen kann.
(erschienen 2001 im „Verwandtenhasserbuch“ des Aarachneverlags)

Ist das ein Rotkehlchen, das da auf meiner Veranda vor dem Regen Schutz sucht? Hat einen roten Fleck auf dem Bauch, sitzt auf der Lehne des alten Korbsessels und schaut mit einem Auge recht dumm in meine Richtung. Mein Opa hätte das sicher ganz genau bestimmen können und ich wohl auch, wenn ich ihm auf unseren vielen ausgedehnten Waldspaziergängen ein bißchen besser zugehört und mir weniger Gedanken über die Fernsehsendungen gemacht hätte, die ich in der Zwischenzeit versäumte. Aber so ist aus mir trotz bester erblicher Voraussetzungen dann doch kein Hobby Ornithologe geworden.
Im nächsten Moment fliegt diese Rotbauchschwalbenschwanzmeise einfach weiter, ohne sich vorgestellt zu haben – wahrscheinlich liegt meine Katze draußen irgendwo herum. Als ob dieses Wiskas verwöhnte, ausgefressene Trumm auch nur den Kopf nach einem so mageren Piepmatz heben würde.
Jetzt bin ich mit meinen Gedanken also bei meinem Großvater angelangt – auch das noch. Nicht nur, daß er mich immer zu diesen endlosen Naturlehrstunden in den Wald gezerrt hat, ausgerechnet mich, der ich schon damals zu den Vorreitern der aufkommenden Couch-potato Generation gehört habe. Pünktlich wie schmerzhafte Zahnarztbesuche durfte ich ihn außerdem zweimal jährlich zu den Promenadekonzerten im Kurpark unserer Stadt begleiten und dort einigen Cousins und Cousinen höheren Grades zusehen, wie sie ihre frisch gewaschenen Hälse in diverse Blechblasinstrumente entleerten, die ich Banause nicht einmal namentlich unterscheiden konnte.
„Schau Dir den X und die Y an.“, hieß es dann immer, „Wie die schneidig frisiert und hübsch angezogen sind. Und wie sie erst toll spielen.“
Bei all seinen vorwurfsvollen Blicken dürfte er über die Jahre allerdings eines vergessen haben: Die musikalischen Mitglieder unserer Sippe waren allesamt Nachkommen der Geschwister meiner Großmutter. Wenn ich also aus seiner Sicht derart mißraten war, dann lag es wohl eindeutig an seinen Genen.
Was würde ich heute dafür geben, wenn mir Mendels Gesetze damals schon ein Begriff gewesen wären. So habe ich immer nur beschämt neben ihm gestanden und auf einen überraschend aufziehenden Platzregen gehofft, der mir genau so oft versagt geblieben ist.
Mein Großvater ist nun schon seit über zehn Jahren tot und somit ist ihm das Schicksal meiner restlichen Familie erspart geblieben. Bei diesem Gedanken hellt sich mein Blick wieder auf.
Seit einer guten Viertelstunde sitze ich jetzt schon neben meinem Schreibtisch und schaue durch das Fenster in den Garten. Der friedliche, regnerisch trübe Herbstvormittag hat keine Ahnung, welcher Amoklauf in diesem Zimmer gerade erst zu Ende gegangen ist. Nicht einmal meine Katze hat etwas bemerkt, aber die reagiert sowieso nur noch auf das Rattern meines elektrischen Dosenöffners.
Auch der Garten ist friedlich. Die schweren, satt grünen Grashalme sind schon wieder viel zu lang, werden aber heuer wohl nicht mehr gemäht werden, von mir auf jeden Fall sicher nicht. So stelle ich mir ein geruhsames Wochenende vor: Keine Verwandtenbesuche, kein Grund aus dem Haus zu gehen und kein schlechtes Gewissen, wenn man sich in eine Decke wickelt, eine Pfeife anzündet und sich mit einem guten Buch in diesen Korbsessel setzt.
Gestern war ein ganz normaler Samstag: Es wurden zwar wieder einmal alle Erwartungen auf außergewöhnliche Unterhaltung enttäuscht, trotzdem kam ich zu fortgeschrittener Stunde relativ gut gelaunt nach Hause und hatte heute in der Früh unter keinerlei Nachwirkungen des feuchtfröhlichen Abends zu leiden. Woher dann beim Frühstück plötzlich dieser unbändige Haß gekommen ist, ist mir daher vollkommen unerklärlich. Es war wohl einer jener Augenblicke in denen man auf einmal neben sich steht und seine weiteren Handlungen nur noch machtlos aus der Ferne beobachten kann.
Jetzt, da alles vorbei ist, bin ich wieder in mir und vollkommen ruhig. Dabei sollten mich eigentlich heftigste Schuldgefühle plagen. Lediglich meine rechte Hand, die eben noch die Tatwaffe gehalten hat, zittert ein wenig.
Das ist wirklich erstaunlich, denn immerhin habe ich in einer knappen Stunde sämtlichen Mitgliedern meiner, zugegebenermaßen nicht gerade sehr großen Familie, ein spektakuläres Ende bereitet. Nichts Gewöhnliches – keine Pistole, kein Gift, schließlich hat man als kreativ arbeitender Mensch auch einen Ruf zu verlieren.
Nach getaner Arbeit sitze ich hier und bin erschrocken über diesen Rausch der Gewalt. Erschrocken ja – aber bereuen? Nicht ein bißchen!

Ich schaue zum Himmel. So schnell wird der Regen wohl nicht nachlassen, er hat sich über der Stadt festgesetzt und auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Trotzdem wird es allmählich Zeit für meinen schweren Gang, ich kann mir keinen weiteren Aufschub mehr gönnen. Sicher suchen sie schon nach mir.
Ich stehe auf, rücke den Stuhl peinlich genau zurecht und gehe, während ich meine Jacke überziehe, mit leisem Stöhnen nach draußen, wo ich sofort von einem kalten Windhauch willkommen geheißen werde. Während ich also den Jackenkragen aufstelle schaue ich nach meiner Katze, doch die hat sich offensichtlich an einen wärmeren Ort verzogen – ist ja auch nicht dumm das Vieh.
Die Schultern hochgezogen laufe ich zum Gartentor und stoße dabei an die feuchten Äste der Büsche, die ich schon vor Wochen hätte zurückschneiden sollen. Sofort höre ich die Stimme meines Vaters: „Wenn man bei deinem Gartentor reinkommt, weiß man schon alles. Der Eingang ist die Visitenkarte des Hauses .. bla .. bla .. bla….“
Was war es doch für eine große Illusion, zu glauben, ich könnte mit dem Umzug in das, von meiner Großtante geerbte Häuschen ein wenig Unabhängigkeit gewinnen. Seit mein Vater in Pension ist sehe ich ihn öfter als zu der Zeit, als ich noch zu Hause wohnte. Immer kommt er zu absolut unchristlichen Zeiten, und immer mit einem vollkommen unnötigen Vorhaben im Kopf. Wenn er es mir auch nie glauben wird, ich bin ganz zufrieden in meinem Refugium. Es ist mir vollkommen egal, daß der Wind durch die alten Holzfenster pfeift, daß ich mit irgendwelchen Niedrigtemperatursparradiatoren meine Heizkosten erheblich senken könnte, daß die Brombeerbüsche verwildern oder an meinen Dachrinnen langsam die Farbe abblättert. Ich bin schließlich Schriftsteller und kein Multifunktionshandwerker, das ist MEIN Haus, nicht ich der Mensch dieses Hauses. Aber das hat mein Vater nie verstanden, und auch nicht, daß ich nach jedem seiner Besuche mindestens einen halben Tag brauche um mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren zu können.
Irgendwann mußte dieser aufgestaute Haß ja einmal explodieren – dabei würde man mir den Tod meines Vaters wahrscheinlich noch als Unfall abkaufen:

Der rüstige Witwer lebt alleine in seinem perfekten Haus. Nicht das kleinste Unkraut stört die Monotonie des englischen Rasens, die Rosen stehen in Reih und Glied, die ausgewogene Wohnatmosphäre wird von sieben Schichten Farbe eisern geschützt und Zugluft ist selbst auf dem Dachboden so passé wie die Beulenpest. Endlich in Pension kann er sich jetzt 20 Stunden pro Tag seinem Schmuckstück widmen und wurde endgültig zum Mensch des Hauses. Wahrscheinlich schläft das Haus schon ganz schlecht bei dem Gedanken, daß er eines Tages sterben wird und es sich dann nach einem neuen Pfleger umschauen muß.
An einem regnerischen Herbstsonntag fällt sein wachsamer Blick auf einen geknickten Ast des alten Weichselbaumes. Äußerlich mag er vielleicht den Mundwinkel verziehen, aber tief drinnen freut er sich, daß er jetzt einen Grund hat um in seine Gummistiefel zu schlüpfen und in den Garten zu gehen. Schließlich steht der Baum auf einem Hügel und ist von der Straße aus im Herbst sehr gut zu sehen. – Wie schaut denn das aus, ein schief herabhängender Ast? Was sollen da die Leute denken?
Im Gerätekeller untersucht er zunächst seine Leiter peinlich genau. Nichts haßt der alte Mann nämlich mehr als verdrecktes Werkzeug und diese Alu-Leiter hat ihm sein leider vollkommen aus der Art geschlagener Sohn erst gestern zurück gebracht, dabei hat der sie sicher schon seit zwei Wochen nicht mehr gebraucht. Oberflächlich mag sie ja sauber erscheinen, aber seinem prüfenden Blick entgeht nicht die kleinste Verunreinigung. „Na ja.“, seufzt er, die muß nachher sowieso noch einmal geputzt werden. Dann wickelt er seine Baumsäge aus dem ölgetränkten Lappen und geht an die Arbeit.
Es sind immer die obersten und am schwersten zugänglichen Äste, die am leichtesten brechen. Vorsichtig auf die regennassen Sprossen tretend klettert er alsdann nach oben. Bei jedem Schritt prüft er den Stand der Leiter und so dauert es drei Minuten bis er den fraglichen Ast erreicht, einen sicheren Stand gefunden und mit der Arbeit begonnen hat. Nach zwei Dritteln steigt er eine Sprosse höher um einen günstigeren Arbeitswinkel zu erhalten, leider vergißt er dabei auf sämtliche Vorsichtsmaßnahmen: Sein linker Fuß gleitet über das nasse Metall wie über eine unsichtbare Bananenschale, seine Hände greifen verzweifelt ins Leere, die Säge fällt zu Boden und der verhinderte Holzfäller stürzt kopfüber hinterher. Hätte er den Sturz an sich mit etwas Glück noch überleben können, so macht die in der Erde stecken gebliebene Säge jede Hoffnung zunichte. Einen solchen Schnitt bringt man allerdings nur mit einem sorgfältig gepflegten Sägeblatt zusammen.
Was für ein kopfloses Ende für einen derart bedachten Mann!

Ja, ja, mein Vater. Wie war noch sein goldenes Zitat, als ich ihm vor Jahren stolz meine erste Laubsägearbeit präsentierte?
„Kreativität ist gut und schön, aber das wichtigste ist, daß man nachher das Werkzeug wieder sauber aufräumt.“
Habe ich diesen Ratschlag nicht brav befolgt? Woher sollte ich denn wissen, daß Schmierseife nicht das richtige Mittel ist, um eine Leiter zu putzen.

Inzwischen bin ich an der Bushaltestelle angekommen. Natürlich drei Minuten zu spät. Das paßt genau zu diesem Tag! Als ich gerade zu einem derben Fluch ansetzen will, kommt hinter mir der Bus. Es geht eben nichts über pünktliche Verkehrsbetriebe.
Ich steige ein und schaue auf den Streckenplan: Zum Polizeipräsidium? – 17 Stationen, aber wenigstens muß ich nicht umsteigen.
Wer von uns hat sich noch nie gefragt, wie es zu einem Amoklauf kommt? Ich weiß es jetzt: Schwierig ist nur der erste Schritt, der Rest kommt ganz von selbst. Und von meinem Vater führte der natürliche Lauf der Dinge geradewegs zu meinem Onkel.
Hier glaubt mir keiner mehr den Unfall. Eine elektrische Heizdecke kann natürlich sehr wohl einen Kurzschluß haben, und zu einem Brand kann es dann auch kommen. Aber die Explosion, die dem armen Mann keine Chance mehr gegeben hat, sein Bett zu verlassen und gleich das ganze Haus zum Einsturz gebracht hat? Nein, da muß ganz eindeutig Dynamit im Spiel gewesen sein.
Die Heizdecke brauchte er für sein Rheumaleiden. Mein Onkel: Postamtsleiter im Vorruhestand – natürlich wegen des Rheumas! In seiner Jugend begeisterter Segelflieger und später auf der ganzen Welt unterwegs gewesen: Armenien, Pakistan, ganz Südamerika und was weiß ich noch wo. Früher konnte er uns Kindern mit seiner beruhigenden Baßstimme die tollsten Geschichten erzählen, da vergaß selbst ich manchmal das Fernsehprogramm. Heute kennt er nur noch ein einziges Thema: Sein Rheuma, sein beschissenes vollkommen uninteressantes Rheuma. Milliarden werden sinnlos in die Rüstung gestopft, aber noch niemand hat ein Medikament gegen sein Rheuma gefunden. Sein Rheuma! Immer nur SEIN Rheuma, als ob er der einzige Mensch auf dieser Welt mit Gliederschmerzen wäre.
Tja, wenn man es so will, SEIN Rheuma habe ich jetzt kuriert – mit sehr viel Wärme. Und seine beiden Söhne auch, meine lieben Cousins, die hab ich gleicht mit kuriert – Prävention sozusagen, Rheuma soll ja erblich sein. Müssen schon skurrile Bilder gewesen sein, wie man sie aus dem Schutt geborgen hat: Der eine von einem kanadischen Elchkopf erschlagen – ich verzichte aus Pietätsgründen auf jeglichen Kommentar, wer dümmer dreingeschaut hat. Der andere mit je einer Billardkugel in jeder Augenhöhle.
Die zwei haben ja immer schon geglaubt, etwas besseres zu sein. Früher wegen dem Billardtisch im Keller und erst recht als sie der Herr Dipl. Ing. und der Herr Mag. Dr. Jur. wurden. Was sich allerdings vor zwei Wochen abgespielt hat, hat jedem erdenklichen Faß die Krone aufgesetzt:
Da gehe ich – eh schon schlecht gelaunt – in ein Innenstadtlokal. Nur auf ein schnelles Bier. Wer steht da lässig an der Bar? Meine Cousin Hans, in der ganzen anzüglichen Pracht seiner Anwaltstracht inklusive gräßlicher Krawatte und Hochglanzschuhen. Natürlich sieht er mich auch und winkt mich zu sich, um mich seinen Kollegen vorzustellen:
„Mein Cousin bla bla bla, der Schriftsteller bla bla bla glaubt er zumindest ha ha ..“
Ich hab gar nicht erst zugehört, doch dann dreht er sich auf einmal zu mir, den Rest irgendeiner abfälligen Bemerkung noch frisch auf den Lippen und meint wörtlich: „Nicht wahr, Schreiberling?“
Schreiberling! Und so was von einem Rechtsverdreher! Aber es war ja nicht dieses Wort allein, bei weitem nicht, es war die verächtliche Art, mit der er es mir vor die Nase gelegt hat – hingespuckt, ja hingekotzt hat. Ich kann gar nicht richtig beschreiben wie. Am ehesten stellt man sich dazu ein Raumschiff vor und ein sieben Meter großes, rotes Monster, dem Feuer aus jeder Pore spritzt, dessen totbringende, meterlange Gifttentakel wild durch den Raum zischen und das soeben die gesamte Besatzung des Raumschiffs wie Streichhölzer geknickt hat, weil sie ihm keine Antwort auf eine bestimmte Frage geben konnten. Tief unter ihm, im hintersten Eck des Raums sitzt verschreckt bibbernd die elendste Menschengestalt im ganzen Universum: Ein Schriftsteller auf dem Weg zur großen Buchmesse auf dem Saturn. Diesen Wurm bemerkt nun das Monster, fährt sein sabberndes Teleskopauge aus, sieht ihn mit der versammelten Verachtung der Fleischfresser sämtlicher Galaxien an und fragt ganz langsam. „Nun? Kannst DU es mir sagen? SCHREIBERLING?“
Ich weiß auch nicht, wie mir damals ausgerechnet dieses Bild vor Augen kam, aber man muß es kennen um zu verstehen, wieso ich nach einer kurzen Pause: „Rumpelstilzchen?“ gesagt und daraufhin die versammelte Anzugträgerkompanie wortlos stehen gelassen habe.

„Nächste Haltestelle Rotenturmstraße!“

Ich schaue auf. Bin ich etwa schon zu weit gefahren? Diese abschweifenden Tagträume sind so etwas wie die Berufskrankheit eines Geschichtenerzähler. Ein Blick auf den Streckenplan beruhigt mich: Noch zwei Stationen.
Bis auf eine Mutter, die versucht ihre zwei Kinder im Vorschulalter darauf einzuschwören, dieses eine mal bei der Großmutter nicht gleich sämtliche Wohnzimmerschmuckgegenstände auf den Boden zu zerren, ist der Bus inzwischen leer.
Also zwei Minuten noch. Kurz spiele ich mit dem Gedanken einfach sitzen zu bleiben, weiter zu fahren. Einmal die ganze Runde, zurück nach Hause und mich dort ganz tief in meinem Bett zu vergraben. Aber ich weiß, daß es keinen Sinn hat. Aufschieben macht alles nur schlimmer. Wenn ich jetzt komme, wird es mir sicher noch zu meinem Vorteil ausgelegt.
Noch eine Station: Der Bus bleibt stehen, die Tür vor mir geht auf und zwei Pensionisten quälen sich die Stufen herauf, offensichtlich auf dem Weg zum Sonntagstreffen der Arbeiterwohlfahrt. Ohne daß ich weiß, welcher Schalk mich reitet stehe ich im nächsten Moment auf und biete den beiden meinen Sitzplatz an. Als ich in ihren Gesichtern auf blankes Unverständnis stoße deute ich erklärend auf das grell gelbe Schild hinter mir:
<>
Lächelnd stolpere ich im anfahrenden Bus nach hinten. Was für ein herrliches Gefühl, ein Böser – ein Outlaw zu sein.
Durch die Windschutzscheibe kann ich schon das Polizeipräsidium sehen. Selbst bei Sonnenschein ist ein trostloses Gebäude. Grau und schmucklos stammt es aus dem 19. Jahrhundert und steht unter Denkmalschutz. Als Kind hab ich dort einmal eine Zeugenaussage gemacht, bei einem Verkehrsunfall. Keine aufregende Sache, ich bin nur am Straßenrand gestanden und war von der Karambolage viel zu fasziniert als daß ich bei der Verhandlung irgendeine Hilfe hätte sein können. Nervös war ich mit meinen 9 Jahren natürlich trotzdem genug. Vorher habe ich eine halbe Stunde auf dem Gang gewartet und durch den Innenhof auf die vergitterten Fenster des Untersuchungsgefängnisses gestarrt. Das muß so sein wie Schule nur ohne Ferien, hab ich mir damals gedacht, aber auch ohne Hausaufgaben.
Der Bus bleibt stehen, ich steige aus, wie auch die leidende Mutter, die versucht ihre hüpfenden Bälger unter dem Schirm zu halten. Drei Paar Schuhe gehen dann gestreßt in Richtungen Großmutter davon. Nur ich stehe noch an der Haltestelle. Erst jetzt bemerke ich die verräterischen Spuren meiner Taten am rechten Zeigefinger. Obwohl ich weiß, daß es keinen Sinn hat, beginne ich daran zu reiben während ich über die Straße gehe. Es ist wieder einmal typisch für meine Familie, daß wir den Geburtstag meines Onkels ausgerechnet im Restaurant „zur Justiz“ feiern müssen. Ein düstereres, stimmungsloseres Lokal kann man selbst mit viel Mühe nicht finden. Hat wahrscheinlich Hans vom Büro aus organisiert. Ambiente, das Wort hat der sicher noch nie gehört.

Den Türgriff schon in der Hand bleibe ich ein letztes mal stehen. Der Tintenfleck am Zeigefinger ist noch immer deutlich zu sehen, dafür ist mein linker Daumen jetzt auch noch blau. Drinnen warten sie alle, die „Wieder mal was verkauft?“ – „Was macht das neue Buch?“ – Partie. Ein tiefer Atemzug dann bin ich bereit. Und wenn es zu schlimm werden sollte, dann brauche ich ja nur an die Geschichte zu denken, die ich heute morgen geschrieben habe.

„Hallo Onkel Ernst! Alles Gute! Tut mir leid, daß ich so spät komme. Was macht das Rheuma?“

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