Beim Hofer war’s

Diese Kurzgeschichte habe ich Anfang Jänner 2001 geschrieben und bei der Lesung
„Who the fuck is GrAuKo“ am 19.1.2001
nur auszugsweise gelesen, da wir unsere Lesezeit auf 10 Minuten beschränkt hatten.
Hier nun der vollständige Text:

Es ist sein letzter Arbeitstag im alten Jahr – der letzte Tag in seinem ersten Arbeitsjahr. Der 23. Dezember – ein Samstag. Heiliger Abend, Sylvester somit ein Sonntag, Dreikönig wieder ein Samstag, drei verlorene Feiertage also. Tatsachen die zum ersten mal seit seiner Schulzeit wieder richtig Bedeutung für ihn haben. Während des Studiums gab es das nicht. Manchmal lernte er auch am Wochenende, dann tat er wieder ganze Wochen lang nichts – es gab keinen Druck, außer dem, den er sich selbst machte.
Aber jetzt kennt er es wieder, das Gefühl des freien Wochenendes in seinem scharfen Kontrast zur monotonen Pflicht der Arbeitstage. Aber andererseits auch die Möglichkeit, ganz abzuschalten, die Arbeit wie einen Mantel an der Garderobe bei der Bürotür abzugeben. Das Unerledigte soll über die Feiertage ganz allein das Problem der Firma sein. Schließlich haben sie einen fein säuberlichen Vertrag geschlossen: Er gibt ihnen 38 Stunden seiner Zeit, das jede Woche und sie zahlen dafür seine Wohnung, sein Essen, sein Auto, seine Pensionsversicherung und seine fünf Wochen Urlaub im Jahr. So ist der Deal, eine engere emotionale Verbindung wird es nicht geben. Nie soll ihn seine Arbeit bis nach Hause verfolgen, hinein in seinen Feierabend, in sein Bett. Nie will er eine Verantwortung spüren, die es für ihn nicht gibt.
Viel zu viel hat er gesehen, viel zu vielen ist es schon so ergangen. Haben nicht energisch genug auf ihren Deal gepocht, haben die Arbeit aus ihrem Käfig gelassen, Stück für Stück von ihrer Seele verkauft. Nur um dann zu spät erkennen zu müssen, daß es einem nie gedankt wird: „Was? Sie haben uns ihre Seele gegeben? Wie dumm von Ihnen! Haben Sie einen Vertrag?“
„Driving home for christmas!“, er haßt dieses Lied und wechselt rasch den Sender. Wie gerne würde er jetzt auch die Fahrspur wechseln, doch er steht fest gezwängt im Rush-hour Stau der Im-letzten-Moment-noch-unbedingt-einkaufen-Müsser. Vorne kann er schon die etwas altmodische Reklametafel des Supermarktes sehen, wie soll er da je einen Parkplatz finden?
Sein Vater ist in seinem Job aufgegangen, wie man so schön sagt. Zuerst aufgegangen und dann darin vergangen, hat alles für die Firma geopfert. Für seine Firma, dieses übergeordnete Monster, das immer mehr zu sein vorgab als die Summe seiner Mitarbeiter, das zur Unterordnung, zum Verzicht auf das eigene Glück aufrief. Irgendwie kann diese Rechnung gar nicht aufgehen: Jeder verzichtet auf sein persönliches Glück, und dadurch sollen dann am Ende alle glücklich werden? Erfolgreich vielleicht, aber auch das nur als Teil der Firma, die allerdings am Ende auf einen .. – Nein, er will jetzt nicht „scheißt“ sagen, nicht im Spätadvent. – …die also diese Opfer nur zu gerne akzeptiert und einem am Ende einfach schluckt.
Der Physiker in ihm sträubt sich: Wo ist es dann hin, das ganze persönliche Glück? Verpufft etwa, durch den Schornstein der Fabrik?
Nein, ihm würde es nie so gehen und damit auch genug nachgedacht über die Arbeit! Schließlich war morgen Weihnachten und nicht der 1.Mai.

Fünf Minuten später hat er nach heroischem Kampf Parkplatz und Einkaufswagen ergattert. Hat einem Typen vorschnell Zehn Schilling fürs Pfand gegeben und zu spät erkannt, daß nur ein Fünfer im Schloß steckt. – Über den Tisch gezogen beim Einkaufswagenpfand? Warum macht jemand so etwas? Und wie oft gelang ihm das wohl ohne verprügelt zu werden? War so ein Verdienst eigentlich einkommenssteuerpflichtig? – Fünf Schilling – mein Gott! Bei seinem Stundenlohn muß er dafür – wie lange? – Ja, zwei Minuten vielleicht, arbeiten. Trotzdem wurmt es ihn. Wer ist schon gerne der naive Durchschnittsbürger, der in seiner trägen Unaufmerksamkeit von einem coolen Ganoven so einfach ausgetrickst wird?
Andererseits konnte es auch ein Versehen gewesen sein. In dem Trubel merkt sich doch keiner, in welchen Schlitz er vor einer halben Stunde seine Münze geschoben hat.
Er lächelt wieder. Sicher: Es war ein Versehen, und außerdem kann er es ja nachher genau so machen. Auge um Auge, Zehner um Zehner.

Einmal noch tief durchgeatmet und dann hinein getaucht in den Strom der Konsumwilligen! Konsum und Hofer? Späte Fusion mit einem Verstorbenen? Ein kurzer Gedanke nur, der ihn schon wieder verläßt, als er erkennen muß, daß seit seinem letzten Einkauf hier alles umgestellt worden ist. Leichte Panik macht sich breit. Die routinierten Wege müssen neu ausgekundschaftet werden. Wie soll er in diesem Gewühl je den norwegischen Lachs geräuchert, den Sahnekren und die 20%ige Diät – Mayonnaise finden? Jawohl NNAISE, so geschrieben wie es sich gehört, nicht NÄSE. 100%ige Nässe gibt es draußen genug.
Erst diese linke Rechtschreibreform mit ihren Mayonasen, den 20%igen und den 80%igen Mayorüsseln, die dann von über – ambitionierten Supermarktleitern, die ausgerechnet im Advent ihre Autorität beweisen müssen, auch noch in den zweiten Quergang links, neben das Ketchup verbannt werden. Ketchup – ob das wohl noch dort stehen wird, wenn man es längst schon anders schreibt?
Ein Mensch wie er ist einfach nicht für diese hektische Zeit geschaffen. Er ist kein Freund des schnellen Wandels, er liebt Beständigkeit, Werte auf die man sich noch verlassen kann, sein Weltbild ruht auf tiefen Fundamenten.
Und damit steht er wieder im Stau. Irgendwo da vorne, hinter den hoffnungslos ineinander verkeilten Einkaufswagen gibt es Sekt. „So billig, wie sie ihn noch nie gesehen haben!“
Rien ne va plus. Nessun – weita? – Ja, Italienisch hätte er immer schon gern gekonnt: Andiamo amici prego!
Jetzt ist er schon 15 Meter weit ins Geschäft vorgedrungen und hat noch keinen einzigen Artikel aus dem Regal genommen. Sicher beobachten ihn die anderen längst verwundert:
Wer ist der Typ dort, der mit dem leeren Einkaufswagen? Ein Verwirrter? Ein Supermarktdetektiv? Einer, der nur wegen dieses einen Super Mega Sonderangebots gekommen ist, von dem ich noch nichts weiß? …
Er zieht den Kopf ein, stellt den Detektivkragen seines Mantels auf und schaut nach links und rechts, doch dort hat man nur Augen und Worte für den Stau:
„Hearst? Geht’s da vorn endlich amal weiter, ihr Weihnachtsmänner?“
Wenigstens ein nettes Schimpfwort, wenn es so etwas überhaupt gibt.

Doch plötzlich reißt der Stau auf! Einkaufswagen werden unsanft zur Seite bugsiert, ein ausladendes Hausfrauenhinterteil elegant umschifft. Er legt ein Kilo Reis in seinen Wagen. Alibikauf! Aber Reis kann man immer brauchen! Und dazu eine frische Freilandgurke –
Wieso eigentlich Freilandgurke? Aus artgerechter Bodenhaltung etwa? Warum konnte man in seiner Jugend trotz all der antikommunistischen Propaganda ausgerechnet immer polnische Freiland – Gurken kaufen. Wo doch nur Österreich frei war!
Ganz Österreich? Nein, ein kleines Rudel Aufrechter hält ihm weiterhin den Weg zu den Tiefkühlvitrinen beharrlich versperrt und so weicht er nach links aus, vorbei an den zerwühlten Wühltischen für Sonderartikel, wie sie heutzutage in keinem Lebensmittelmarkt mehr fehlen dürfen: Nasenhaartrimmer, Aktenvernichter, formschöne Strapazierhosen für den modebewußten Rhinozerosreiter von heute. Kurzum Dinge, bei denen man sich fragt, wie man bislang ohne sie hatte auskommen können, vor allem, wo hier alles doch sooo billig ist. – 300 farbige Heftklammern im Glas! Damit wären auch seine Urenkeln noch versorgt.
Eigentlich fehlen jetzt nur noch diese freundlichen Konsum-Motivations-Informationsdurchsagen zu seinem Glück:
„Vergessen sie nicht unser Angebot der Woche, beim Kauf von vier Dosen Mischgemüse erhalten sie das Polaroid einer Feldtomate gratis.“
Das Angebot der Woche! Wie das schon klingt, ungefähr so überladen wie: Das Gebot der Stunde! Da hat er schon ganz andere Gebote gehört, die, die mit „Du sollst nicht….“ beginnen. Aber waren das dann nicht Verbote – das hat er sich eigentlich immer schon gefragt. Andererseits, wie klingt denn das? Die zehn Verbote? So gesehen ein kluger Marketing Schachzug – wär’ sicher ein hervorragender Supermarktmanager geworden der alte Moses. Man muß seine Thesen eben mit der nötigen Autorität vorbringen, gottgesandt, eingemeißelt in Steinplatten, das wäre auch in der heutigen Zeit mit ihrer Reizüberflutung und der von allen Seiten auf uns einprasselnden Reklame wichtiger denn je:
„Du sollst keine japanischen Autos kaufen!“
„Du sollst keine andere Schokolade essen als meine!“
„Du sollst nicht begehren die Produkte der Konkurrenz!“
„Du sollst mit keinen gefälschten Designerprodukten protzen vor Deinem nächsten!“
„Du sollst nicht töten!“
„Du sollst die österreichische Alpenmilch ehren, auf das Du wohl gedeihest!“
Moment, Halt! War da nicht was dabei, das wichtig war? Verdammt! Jetzt hat er nicht aufgepaßt!

Kaufen, Kaufen, Kaufen, rund um ihn gehen die Einkaufswagen in die Knie. Er läßt sich treiben als würde er gar nicht dazu gehören. Als sei er selbst einer jener Konsumartikel, einer den keiner will, ein Ladenhüter. Was passiert eigentlich mit einem Geschäft, wenn jemand den Ladenhüter kauft? Geht es dann pleite oder brennt es nieder, das unbehütete Geschäft?

Damit hat er seine erste Runde vollendet, eine Dose Cocktailkirschen und ein Dutzend marinierte Austern gekauft, beides reine Zufallstreffer. Wenn er sich weiter derart ablenken läßt, dann ist er zu Sylvester immer noch hier. Mit einem kühnen Sprung flüchtet er in eine enge Nische zwischen Fertigpüree und Hühnersuppe. Ein rettender Hafen im immer dichter werdenden Strom – das Auge des Orkans. Durchatmen!
Am liebsten würde er seinen Wagen stehen lassen, sich durch eine Oberlichte zwängen, nach draußen abseilen und auf eine Essenslieferung vom Weihnachtsmann hoffen. Am 23. Dezember geht doch niemand mehr einkaufen, da sind die Geschäfte viel zu überfüllt.

Jingle bells, jingle bells.. „Grüß Gott!“ 6.90, 7.90, 3×12.90, 7.90 – kann der nicht schneller machen, bis der endlich seine Milch im Wagerl hat staut sich schon das halbe Band. Jingle bells, jingle bells. Na endlich! 12.90, 8.90, 1-2-3-4-5 mal 5.90, Sonderartikel Strickhandschuhe 79.90. jingle bells, jingle bells“
Seit sieben Jahren sitzt sie nun schon an dieser Kasse. Aus dem Job, der eigentlich nur helfen sollte das Tief im Medizinstudium zu überbrücken ist längst eine Einbahnstraße geworden. Eine Hand am Band, eine Hand an der Kasse. -„7.90, 5.90, 12.90,“ – Sie ist zur gut geölten Maschine geworden. Bestaunt, manchmal sogar gelobt: „Wie sie sich das alles merken und so schnell eintippen, Fräulein, also da kommen diese modernen Computer Dinger nicht mit, sie wissen schon, die mit den Strichen und so. Also was ich mich da schon geärgert habe.“
Lächeln, „Danke!“, der nächste Kunde wartet schon ungeduldig.
Wen interessiert es schon, daß sich die Maschine in ihr schon lange nicht mehr abstellen läßt. „5.90, 7.90, 11.90. macht zusammen 755.90.“ – „Danke und 90.“ – „Schönen Tag noch und 90.“ – „Endlich Feierabend und 90.“ – „Wir sehen und dann morgen und 90.“ – „Komm gut nach Hause und 90.“ – „Ich schlafe in letzter Zeit kaum noch und 90.“
Es gibt keinen Netzstecker zu ziehen, keine Lider zu schließen, ihre Nächte, ihre Träume, sind ein endloses Förderband aus versäumten Gelegenheiten. Franz – 11.90, Faschingsprinzessin der dritten Klassen – 150.90, Anatomieprüfung im dritten Versuch – 20.000.90, Egon – 1.90? 0.90? „Ach, für den müßten Sie eigentlich noch etwas kriegen, nehmen Sie ihn nur ja schnell mit.“ Warum kaufen diese gesichtslosen Menschen nur immer wieder die selben Dinge?

Endlich ist ihm seine Liste eingefallen. Wozu hat er die heute morgen eigentlich geschrieben? Männer sollten einfach nicht einkaufen gehen. Das muß so eine Art Gendefekt sein.
Aber jetzt! Den Wagen wird er in der Nische stehen lassen. Als Infantrist ist er in diesem Dschungel sowieso besser dran. Er spürt archaische Kräfte, endlich wieder Jäger und Sammler! Längst verloren geglaubte Triebe werden wach – die nächsten beiden Wochen wird er sich sicher nicht rasieren.
Erste Beute: Zwei Kilo Orangen – die Nasangen sind anscheinend noch nicht reif.
Er singt:
„Ich wurd’ geboren mit ‘nem Lächeln im Gesicht, die ganze Welt, die ist mein Freund, oh – ja!!“
Na ja, das klingt auf Englisch irgendwie besser oder einfach nur halb so blöd.
Leise summend tänzelt er auf sein nächstes Ziel zu: Äpfel – zwei Kilo im Plastiksack. Ein schneller Griff – erwischt! Auftrag Obst erfüllt, zurück damit zur Basis und dann weiter zum Fleisch.
Links, rechts, flinke Bewegungen, eine volle Drehung, ein kleiner Sprung, Schritte, wie er sie seit der Maturaballpolonaise nicht mehr gegangen ist.
„Got a dance!“ Fred Astaire ist tot, Gene Kelly ist tot, aber ihm geht es blendend.

Hat er möglicherweise das Schild übersehen auf dem für alle anderen ganz deutlich steht: „Freundliches Gesicht machen bei Strafe verboten.“ Was haben die sich denn erwartet? Drängen eine Stunde vor Feiertagsladenschluß mit einer halben Milliarde anderer in einen deprimierenden Betonflachbau und wundern sich dann, daß ihnen das keinen Spaß macht. Der dort drüben zum Beispiel, der mit dem Lodenmantel und dem Gamsbarthut, ist der nicht zum Schießen? Weidmannsheil, Herr Graf, das Rehgulasch liegt in der dritten Truhe.
Oh Gott, diese Menschheit ist verloren!

Zwei Stunden noch! Ihr macht es nichts aus, auch heute zu arbeiten. Besser als zu Hause zu bleiben – allein. „Guten Tag.“ Ein rascher Blick in den Einkaufswagen, ist eh schon lange nichts mehr vorgekommen. „5.90, 12.90, 17.90″
„Entschuldigung. Können sie nach dem Toilettenpapier vielleicht eine Zwischensumme machen? Ich weiß nicht, ob ich genug Geld dabei habe.“
Sie nickt. Schon wieder so eine. Indirekt – Einkäuferin. Warum kommen die nicht gleich ins Geschäft und sagen: „Was kostet das alles, was sie hier haben?“ – „38 Millionen gnädige Frau.“ – „Gut, dann gehen sie bitte mit und ich sage ihnen, was ich alles nicht nehme.“ Immer Lächeln!
Mit dem Toilettenpapier um 39.90 macht das genau 273.70.
Natürlich hat sie nicht genug Geld dabei, die dumme Pute, dabei liegen da noch gut 150 Schilling auf dem Band. Zweihundert hat sie, also knapp die Hälfte, das ist wirklich ein starkes Stück, so gut kann sogar ein Blinder schätzen.
Die nächste Kundin ist offenbar die Mutter. „Hab ich’s Dir nicht gleich gesagt Hilde? Wissen Sie was, Fräulein, lassen sie mich vor, dann weiß ich wie viel mir übrig bleibt, für meine Tochter.“
„Gerne!“ Sie versucht ruhig zu bleiben, vielleicht sind das ja Kassenkontrollore. Immer freundlich bleiben zu den Kunden. Lächeln!

Er steht an der Kasse und wieder geht nichts weiter. Dabei liegt sein gesamter Einkauf schon auf dem Förderband. Alles da. Zitronensaft, kandierte Früchte, der Zucker heute sogar als Feinkristall.
Was sich vor ihm abspielt muß allerdings der Supergau für jede Kassiererin sein. Jetzt klettert die Alte halb über den Einkaufswagen der Jungen. Ihm soll’s recht sein, seine Schlacht ist geschlagen, wie er vom Parkplatz kommen soll im Augenblick egal.
Die Kassiererin mit ihrer Engelsgeduld macht Weihnachten alle Ehre. Schade, daß ihr Lächeln nicht ernst gemeint ist. „Deine wahren Farben sind leider nicht so schön wie ein Regenbogen.“
Aber ist es ihr denn zu verdenken. Er könnte das nicht, keine fünf Sekunden lang still sein bei so viel Dummheit. Eine Stunde muß sie jetzt noch durchhalten, dann kann sie heim zu ihrem Mann. Zu den zwei kleinen Kindern vielleicht. Er starrt auf die flinken Finger. Kein Ring zu sehen. – Was ist das nur mit Singles und Weihnachten?
Endlich zahlt die alte Schachtel. Wieviel sie jetzt übrig hat? Satte 20 Schilling, das reicht bei weitem nicht. Mit einem lauten Klatschen fährt seine Hand zur Stirn. Er erntet einen finsteren Blick der Kassiererin.
„Nein, nein. Das galt doch nicht Dir, ich bin doch auf Deiner Seite.“ Er lächelt, doch da hat sie sich längst schon weg gedreht. – Na toll, das hat er ja wieder einmal großartig verbockt!
Vor ihm steigert sich derweil das Drama zu einem furiosen Schlußakt. 54 Schilling müssen zurück gebracht werden: „Was kostet das?“ – „Und was das?“ – „Aha!“ – „Und das?“ – „Und die drei zusammen?“ -„Hmm!“
Er hat den Hunderter schon in der Hand. „Nehmen’s den -bitte!!!“ Natürlich weiß er, daß das nicht geht – nicht einmal zu Weihnachten. Das erwartet heute keiner mehr, da wird dann gleich ein Pferdefuß vermutet und am Ende muß Er sich dann noch rechtfertigen.

Er senkt seinen Blick und starrt in den leeren Einkaufswagen. Er ist weit weg, an den unruhig herbeigesehnten Weihnachtsabenden seiner Kindheit. Advent, damals die längste Zeit im Jahr. Im nächsten Moment sieht er die Lösung.
>> Du mußt hier predigen! <<
So rasch und unvermutet, wie dieser Gedanke auf einmal aufgetaucht ist, so klar und nicht weiter hinterfragbar steht er jetzt vor ihm. Natürlich! Wenn nicht er, wer dann? – Wenn nicht jetzt, wann dann? – Diese Welt kennt schon genug, die ihre Augen vor allem verschließen. Er wird sich hinstellen, wo ihn jeder sehen muß und den Menschen diese Augen wieder öffnen. „So kann das nicht weiter gehen meine Freunde. Wir müssen einander wieder anschauen. Miteinander reden, uns auch mal anlächeln. Versuchen wir doch, auch das, was wir tun müssen mit Freude zu machen. Es ist gar nicht schwer.“

Ein Gefühl reiner Wärme steigt in ihm auf. Eine Eingebung, ein Auftrag, der keinen Aufschub duldet. Voll Euphorie dreht er sich um.
und merkt nicht, wie hinter ihm die Geflügelschere um 79.90 zurückgegeben wird und in hohem Bogen auf die Quängelware fliegt.

„So, bitte! Den Zettel kann ich ihnen aber nicht mitgeben, ich muß das nachher stornieren, sonst hät’ jetzt die Chefin kommen müssen und ich dann alles neu eintippen.“
„Ich brauch den Zettel aber. Ich muß ja überprüfen ob sie richtig gerechnet haben.“
Ihr steht die Galle bis zum Hals. Wenn sie dieser Funzen noch einmal ins Gesicht schauen muß, dann wird sie sich unweigerlich an ihrer Kehle fest beißen. Sie reißt den Kassabon ab und wirft in den Wagen: „Dann kontrollierens des da hinten und geben ihn mir dann zurück. Auf Wiedersehen.“ Warum nur hat sie die Geflügelschere so weit weggeworfen? Diese zwei dummen Hühner gehörten schon längst gerupft.

Die Schlange vor ihrer Kasse ist endlos. Eine Stunde? – Das ist doch eine Lüge, sie wird hier sitzen bis zum Ende ihrer Tage, bis sie hier endlich Harakirischeren verkaufen. Durchatmen. Lächeln!
„Grüß Gott.“

Ein leerer Einkaufswagen steht verlassen neben dem Förderband. Der Typ mit der Grimasse ist weg. Ja, was ist jetzt los? Wo ist der Kerl hin? Ist sie denn heute nur von Verrückten umgeben?
Die ganze Schlange hat sich schon umgedreht und jetzt sieht sie ihn auch, wie er auf den Wühltisch mit den Strickhandschuhen geklettert ist, aufsteht, die Hände weit ausbreitet und ruft: „Freunde, hört mir zu! Ich .. Ich .. äh, ..Also,.. Ich, …. Äh, wollte… ich glaube, .. äh, .. ich hab da unten irgendwo meine Kontaktlinsen verloren.“

© Peter Heissenberger 2001

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