Es ist vielleicht das einzige Stück Freiheit, das man sein ganzes Leben ununterbrochen besitzt: Die Freiheit, das Leben wegzuwerfen.
(Stefan Zweig)
Von allen möglichen Arten, den 35. Geburtstag zu feiern, habe ich die beschissenste ausgewählt: Ich klettere bei Regen und Nebel auf einen 2300 Meter hohen Berg im Toten Gebirge.
Warum ich das tue? Was ich mir davon verspreche?
Ich erwarte mir davon nicht weniger, als dass die nächsten 35 Jahre schöner werden, glücklicher, sorgenfreier. Ich will in Zukunft jede Nacht durchschlafen können, ich will den Sex mit Hans genießen lernen und ich will Alexandra öfter privat und dafür weniger oft in Ausübung ihres Berufs treffen. Das alles soll mir die heutige, verregnete Bergtour verschaffen.
Dabei bin ich mir ganz und gar nicht sicher, ob diese Rechnung aufgehen wird, aber einen Versuch ist es allemal wert.
Kurz unter dem Gipfel des Mittelmölbing mache ist erstmals Rast. Der Nebel ist wieder dichter geworden. Nicht ganz ungefährlich in diesem schroffen und steinigen Gelände. Lieber etwas heißen Tee trinken und abwarten, ob sich der Nebel wieder lichtet. Ansonsten müsste ich überlegen, die Tour vorzeitig abzubrechen, und das wäre bei meinen Erwartungen mehr als schade.
Ich stelle den Rucksack ab, nehme meinen Regenponcho heraus und ziehe ihn mir über die Wanderjacke. Bei diesem Wetter kann ich die geplante Jause auf dem Gipfel des Hochmölbing sowieso vergessen, also kann ich mir ruhig jetzt eine kleine Stärkung gönnen. Im kalten Regen stehend. In dichten Nebel eingehüllt. Was solls? Ich muss versuchen, das Beste aus jeder Situation zu machen. Das hat mir Alexandra jahrelang eingeschärft.
Alexandra ist meine Therapeutin.
Trotz der Kälte schwitze ich unter der Wanderjacke vom schnellen Aufstieg, spüre aber, dass ich sehr schnell auskühle. Ich hole die Thermoskanne aus dem Rucksack. Nichts kann starkem, süßem Tee am Berg das Wasser reichen. Den Rucksack platziere ich dann genau zwischen meine Beine auf den nassen Felsboden, damit er unter dem Poncho etwas vor dem Nieselregen geschützt ist. Erst danach schenke ich mir Tee ein. Mit beiden Händen umfasse ich den Edelstahldeckel der Thermoskanne, und wärme mir die Finger. Dann beuge ich mein Gesicht direkt in den Dampf hinein. Wässriger dünner Rotz tropft von meiner roten Nase in den Tee, aber das stört mich nicht. Schließlich bin ich allein auf weiter Flur.
Ich nehme vorsichtig einen Schluck. Mit geschlossenen Augen schlucke ich den Tee hinunter. Sofort strömt Wärme von Mund, Speiseröhre und Magen in meinen ganzen Körper aus.
Meine Augen beginnen zu tränen.
Um mich herum erstreckt sich die Stein- und Geröllwüste des Toten Gebirges. Bei diesem Wetter erscheint alles noch viel unwirtlicher als sonst. Für Ende Juni ist es außerdem viel zu kalt. Wie viel lieber wäre ich doch zuhause in Wien, in meiner Wohnung, oder in der von Hans. Aber er und Alexandra waren es, die mich dazu gedrängt haben, den Hochmölbing noch einmal zu besteigen. Ein allerletztes Mal.
Bei der Herfahrt aus Wien habe ich mir aus Anlass meines Geburtstages in der Konditorei Mitter in Liezen ein Stück Schokoladetorte gekauft. Das hole ich jetzt ebenfalls aus dem Rucksack und verschlinge es gierig.
Als ich die Konditorei verließ und über den Parkplatz zurück zu meinem Auto ging, konnte ich das Haus meiner Eltern sehen. Die Rampe für den Rollstuhl meines Vaters wirkte immer noch neu und ungewohnt auf mich, dabei gibt es sie jetzt bald zwanzig Jahre. Ich hatte ein komisches Gefühl im Bauch, als ich so mein Elternhaus anstarrte. Seit über zwölf Jahren hatte ich es nicht mehr betreten. Seit Mutters Tod. Ob Vater jetzt wohl daheim sein würde?
Ich hatte nicht die Absicht, es herauszufinden. Deswegen war ich nicht ins Ennstal zurückgekehrt. Im Gegenteil. Ich bestieg diesen vermaledeiten Berg ein allerletztes Mal, um meinen Vater endlich loszuwerden, nicht um ihn wiederzusehen, und bei Kaffee und Kuchen Erinnerungen an die Kindheit heraufzubeschwören. Dazu brauche ich meinen Vater nicht. Die kommen ohnehin, diese Erinnerungen. Andauernd und ungefragt. Und deshalb bin ich hier.
Wie still es ist. Nur das leise Rascheln des Nieselregens auf meiner Kapuze. Keine Bergdohle ist zu sehen, keine Gämse, kein Murmeltier. Das Tote Gebirge macht seinem Namen alle Ehre. Selbstverständlich sind auch keine anderen Wanderer unterwegs. Wer steigt schon bei so einem Sauwetter auf einen Zweitausender? Das kann nur jemandem wie meiner Therapeutin, meinem Freund oder mir selber einfallen. Oder uns allen zusammen. Aber ich bin es ja gewohnt.
Mein Vater wanderte mit mir früher auch immer nur dann auf den Hochmölbing, wenn das Wetter richtig schlecht war. Ich weiß nicht mehr, wie er das Mutter erklärt hat. Jedenfalls mochte er es nicht, wenn außer uns noch andere Wanderer ums Gipfelkreuz herum waren. Ich konnte das gut verstehen. Wie hätten die wohl auch reagiert, wenn er dort am Gipfelgrat den Reißverschluss seiner Kniehose öffnete, seinen Schwanz auspackte und ihn mir in die Hand zwang? Seinem neunjährigen Kind.
Vor wenigen Wochen war ich mit Hans im Kino. Wir sahen uns den Film einer jungen österreichischen Regisseurin an. Er hieß Nordrand. Bei einer Szene sah man ein vielleicht 14-jähriges Mädchen im Bett liegen. Ekel und Verzweiflung spiegelten sich in ihrem Gesicht. Dann schwenkte die Kamera und man sah ihren Vater im weißen Unterhemd neben dem Bett sitzen und sich mit ihrer Hand einen runterholen. Glücklicherweise saß ich am äußeren Rand der Kinoreihe. Als ich vom Klo zurückkam, nahm Hans meine Hand und drückte sie ganz kurz, ohne seinen Blick von der Leinwand zu nehmen.
Früher, als ich noch in Liezen zur Volksschule ging, kniete ich mich in den Sommerferien jeden Abend neben mein Bett und betete. Lieber Gott, bitte mach, dass es morgen schön ist und dass die Sonne scheint. Und dass viele Leute auf den Hochmölbing gehen.
Wenn es schön war, konnte ich mit meinen Volksschulfreunden ins Schwimmbad gehen. Aber wenn es in der Früh regnete, (und das tut es häufig im Ennstal) wusste ich, dass Vater mich beim Frühstück mit zusammengekniffenen Augen anstarren und eine Tour auf den Hochmölbing vorschlagen würde. Erzähl das ja nie der Mama, hat er mir eingeschärft. Wenn sie erfährt, was du da oben tust, mag sie dich sicher überhaupt nicht mehr und wir werden dich in ein Internat schicken müssen.
Ich war ein gehorsames Kind. Mutter hat es nie erfahren. Bis zu ihrem Tod nicht. Aber hat sie es deswegen tatsächlich nicht gewusst? Was hat sie sich bloß dabei gedacht, wenn Vater immer nur beim allerschlimmsten Wetter mit mir auf den Berg stieg? Warum hat sie nicht nachgefragt? Warum hat sie mir nicht geholfen?
Ich packe die Thermoskanne und den schokoverschmierten Pappteller zurück in den Rucksack. Handschuhe an, Rucksack und Stöcke aufnehmen, und ich marschiere wieder weiter. Ich muss heute auf den Gipfel. Nebel hin, Nebel her. Nach wenigen Minuten bin ich am Mittelmölbing. Von nun an geht es nur mehr leicht ansteigend den Grat entlang bis zum Hochmölbing. Zu beiden Seiten des Grats erstreckt sich ein Nebelmeer. Die Sicht beträgt vielleicht zwanzig Meter. Im Westen ist an klaren Tagen die Tauplitz und das Dachsteinmassiv mit dem Gletscher zu sehen, aber heute ist alles nur grau.
Als ich etwa zwölf war, zwang mich Vater, seinen Schwanz nicht nur in die Hand, sondern auch in den Mund zu nehmen. Er stand mit ausgebreiteten Armen am Gipfelgrat, so wie die Christusstatue am Corcovado von Rio de Janeiro, und ließ sich von mir einen blasen. Sein violetter Schwanz schmeckte nach Schweiß und Schiffe. Ich weiß nicht mehr, wovor mir mehr grauste, vor diesem stinkenden Stück Fleisch, oder vor der Vorstellung, dass ich selber diesem widerlichen Ding entsprungen war. Dass es mir DAS LEBEN GESCHENKT hatte.
Vielen Dank auch. Sofern meine Seele schon in anderen Körpern gewohnt hatte, wie es etwa die Hindus glauben, was hatte sie da bloß angestellt, was verbrochen, dass ich es als Kind auf so furchtbare Weise ausbaden musste?
Letztes Jahr war ich mit Hans in Wien zu einem Spieleabend eingeladen. Es wurde unter anderem eine Variante des Spiels „Nobody’s perfect“ gespielt. Dabei sucht jemand aus einem Lexikon oder Fremdwörterbuch ein Wort heraus, von dem er oder sie glaubt, dass niemand in der Runde es kennt. Das Wort wird verkündet und daraufhin erfindet jeder Mitspieler eine möglichst realistisch klingende Erklärung dieses Begriffes und schreibt sie auf einen Zettel. Der Spielleiter schreibt währenddessen die tatsächliche Erklärung aus dem Wörterbuch ab. Die Zettel werden dann eingesammelt, durchgemischt, und der Spielleiter liest alle Erklärungen vor. Man weiß also nicht, von wem welche Erklärung stammt und welches die tatsächlich zutreffende ist.
Ein sehr lehrreiches Spiel. Ich lernte dabei etwa, dass ein Epongeur ein Mann ist, der sich daran begeilt, in öffentlichen Toiletten mit einem Schwamm den Urin fremder Leute aufzusaugen und sich in den Mund zu spritzen. Oder etwa der Begriff Smegma. Ich hatte hin und her überlegt, nach einer plausibel klingenden Erklärung gesucht, und dann auf meinen Zettel geschrieben, dass Smegma der in Norddeutschland gebräuchliche, aus dem Mittelhochdeutschen stammende Ausdruck für „Schmeckt mir“ sei, also ein Lob für den Koch oder die Köchin. Beim Vorlesen der Erklärungen wurde mir aber schlagartig klar, dass es sich bei Smegma um etwas gänzlich anderes handelte. Ich erkannte die richtige Erklärung sofort, raffte mich von der Wohnzimmercouch auf und rannte aufs Klo.
Als Smegma bezeichnet man die weiß-gelbliche, talgige Substanz aus Talgdrüsensekret und Hautzellen, die sich unter der Vorhaut des männlichen Gliedes ansammelt.
Ich war danach nie mehr wieder bei diesen Freunden auf Besuch gewesen. Zu sehr war ihre Wohnung mit der Erinnerung an Vaters stinkenden Schwanz in meinem Mund verbunden.
Der Wind wird nun etwas stärker und bläst Nebelfetzen aus dem Kessel herauf. Für zwei Sekunden habe ich freie Sicht und kann in etwa hundert Metern Entfernung das Gipfelkreuz erkennen. Bald habe ich es geschafft.
Mein letzter Gipfelsieg am Hochmölbing ist auf den Tag genau zwanzig Jahre her und hat die Bezeichnung Gipfel-Sieg tatsächlich verdient. Es war mein 15. Geburtstag und genau so verregnet, kalt und grau wie heute. In der Früh schlug mein Vater, wie zu erwarten gewesen war, eine Geburtstagswanderung auf den Hochmölbing vor.
Aber ich will heute nicht wandern!
Anstatt zu antworten, glotzte er mich mit offenem Mund an. Seine Adern am Hals traten hervor und sein Gesicht lief rot an.
Geh, warum willst du denn nicht mit dem Vati auf den Berg gehen? Du gehst doch sonst auch so gern, sagte meine Mutter.
Ungläubig starrte ich sie an. Wie konnte sie nur so ahnungslos sein, so dumm, so naiv?
Wir gingen also auf den Hochmölbing damals, mein Vater und ich. Und wie in all den Jahren zuvor, steckte mein Vater am Gipfelgrat zuerst sich ein Stück Speckbrot und dann mir seinen verschwitzten Schwanz in den Mund.
Genau hier an dieser Stelle. Ich lehne jetzt am metallenen Gipfelkreuz und betrachte die Mulde im Boden, in der ich damals kniete. Und ich erinnere mich daran
wie ich meinen Vater, kurz bevor er mir in den Mund spritzen konnte, mit beiden Händen und mit aller Macht vom Gipfelgrat hinabstürzte
wie ich dann etwa dreißig Meter zu ihm hinabkletterte
wie ich sah, dass er noch atmete
wie ich ihm ins Gesicht spuckte
wie ich den Reißverschluss seiner Kniehose zumachte
und wie ich dann alleine ins Tal abstieg und die Bergrettung verständigte.
Zwei Tage später war es Gewissheit, dass Vater niemals wieder gehen können würde, und meine Mutter saß in der Küche und weinte.
Ich weinte auch. Vor Erleichterung.
Der Wind wird jetzt immer stärker und bläst die Nebelschwaden weg. Es wird heller. Die Sonne scheint als matte Scheibe ganz leicht durch die Wolkendecke und es wird schlagartig um einige Grad wärmer. Der Nieselregen hört auf und die Sicht reicht plötzlich einige hundert Meter weit. Ich kann auf einmal den Weg, den ich weitergehen werde, sehen. Kein langsames Vorantasten mehr, ein forsches Voranschreiten erwartet mich jetzt, ein flottes Gehen. Fort von hier. Zurück ins Tal. Zu den Lebenden.
E N D E
© Karl Hofbauer
erschienen im „Verwandtenhasserbuch“, Hg. Ernst Petz
Wien: Aarachne 2001