Ich hatte meinen Missmut mit einigen Gläsern mittelmäßigen italienischen Weins betäubt und mir selbst ausreichend Leid getan, ob meines widerlichen Schicksals. Draußen lag eine laue Sommernacht, und das Zirpen der Grillen klang durch das halb geöffnete Fenster wie höhnisches Lachen. Meine Augenlider waren schwer geworden, und der Text auf dem Blatt vor mir verschwamm. Nur der Ärger hielt mich wach. Der Ärger über mich selbst, der ich hier saß und die Aufsätze von Menschen las, die ich nicht kannte. Der Ärger über die Schreiber der Aufsätze, die mir die Zeit raubten, und die Chance, auf der Terrasse zu sitzen und guten Wein zu trinken. Der Ärger über das Geschreibsel, durch das ich mich hier quälte.
Natürlich war es ehrenvoll, dem berühmten Wissenschaftlichen Beirat der berühmten wissenschaftlichen Tagung in dem berühmten Ort mit der viertältesten Universität der drittgrößten englischen Grafschaft anzugehören. Die Namen, die mit meinem in der Liste der Komiteemitglieder standen, waren so berühmt und standen in so vielen Fußnoten, dass ich gedacht hatte, sie alle müssten längst tot sein. Ich stand unmittelbar hinter Dr. Ricardo V., dem Leiter des berühmten Forschungsinstituts, nicht weit von Susana Y., der ersten und bislang einzigen Frau an der Spitze einer Universität des mittleren Westens, noch vor Ali A., dem ersten saudiarabischen Professor an einer isländischen Universität und Eric G., dem greisen Gründer des Hauptsponsors. Sicher würde es sich großartig machen, in allen Nachrufen als Mitglied dieses Beirats genannt zu werden. Bloß, bis dahin hatte ich noch etwas Zeit zu überwinden, voraussichtlich, und die Flasche war leer.
Zwei Artikel lagen noch zwischen mir und dem Rest der Nacht. Ich nahm den ersten, der etwas dünner aussah, mehr Bilder und größere Zeilenabstände hatte. Die Reorganisation der Futterversorgung in einem der zehn größten englischen Safariparks. Welcher Idiot schreibt so etwas? Jeder mittelmäßig talentierte Schimpanse wusste mehr darüber als das siebenköpfige Forscherteam, das drei Monate lange mit Büchern unter dem Arm das soziale Gefüge der Nilpferde störte.
„Umfassend und klar formulierte Zieldefinition, konsequentes Forschungsdesign“ kritzelte ich an den linken Rand und hasste mich dafür. Nicht einmal diskutieren können würde ich meine Einschätzung, niemand außer mir würde dieses Werk lesen. Außer vielleicht ein pensionierter Zoodirektor oder ein beinamputierter Raubtierdompteur.
492 Millionen Besucher verzeichneten die britischen Freiluftattraktionen wie Safariparks und Zoos im Jahr 2006, damit verbringt der durchschnittliche Brite deutlich mehr Zeit vor dem Affenkäfig als mit seinem Ehepartner. 40 % der Besuche finden in den regenarmen Monaten Juli und August statt, somit bleibt den britischen Familien im Restjahr ausreichend Gelegenheit für die Champions League und die Fortpflanzung. Unter der Annahme eines weiterhin kontinuierlichen Wachstums der Safariparkbesuche und einer tendenziell gleichbleibenden Preisentwicklung werden die Kosten der Futtermittel der britischen Safariparks im Jahre 2011 erstmals höher sein als die Ausgaben der privaten Haushalte für Corn Flakes.
Bei besonders schwachen Argumenten wuchs die Dichte der Fußnoten, die sich wie Fußangeln um jeden Versuch der kritischen Reflexion legten. Was konnte gegen eine Behauptung gesagt werden, die gestützt war durch ein Zitat aus dem Buch von Prof. W., dem Begründer der vergleichenden Distanztheorie? Was gegen die Hypothese, untermauert durch ein Interview mit Merwan M.? Jeder Kritiker würde sich unglaubwürdig machen, ja, angefeindet werden ob seiner Polemik. Ich schrieb an den rechten Rand „Fundierte Argumentation unter Einbeziehung der relevanten und aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse“. Die Grillen zirpten, und die Affen lachten mich aus.
Eine Behauptung bleibt Spekulation, bis sie zur Fußnote wird. Jeder Text ist angreifbar, und Herden von Jungwissenschaftlern lauern darauf, einen methodischen Fehler oder sonstigen intellektuellen Fauxpas in deinen Schriften zu finden. Nichts ist leichter. Zwei Wege gibt es, dich unangreifbar zu machen, deine Meinung zur unumstößlichen Weisheit zu erheben. Du kannst versuchen, in die Neuauflage der Bibel aufgenommen zu werden, etwa als Exkurs zum Neuen Testament. Allerdings sind die Verlage sehr restriktiv bei der Aufnahme neuer Autoren mit ungesicherten Erkenntnissen. Somit ist dieser Weg ein sehr schwieriger, genau genommen scheidet er aus. Der zweite Ansatz scheint da deutlich vielversprechender.
Schreibe eine Behauptung. Sie kann widersprüchlich sein, unbewiesen oder auch zweifelhaft. Bette sie ein in den seriösen Rahmen eines anerkannten wissenschaftlichen Organs oder einer Tagung. Warte, bis sich jemand deines Themas annimmt und dich zitiert. Mit Fußnote. Geschieht dies nicht innerhalb von sechs Monaten, gewinne einen Kollegen oder Freund dafür dich zu zitieren. Mit Fußnote. Schenke ihm eine Flasche Wein oder einen Urlaub auf den Azoren.
Bist du einmal zitiert, wird es ganz leicht. Andere Autoren werden sich anschließen und deine Ideen hemmungslos verbreiten. Auch wenn dein Werk längst vergriffen ist und nur noch das Archiv der Volkshochschule eine schlechte Kopie davon besitzt, ist dein Gedanke nicht verloren. Sogar noch unwiderlegbarer.
Ich kämpfte mich durch den Dschungel der Argumente, und der Aufsatz war noch nicht zu Ende. Im Gegensatz zum Wein.
Fußnote 78 belegte anhand eines vergriffenen Buches eines längst verstorbenen Professors, dass alle modernen Managementansätze im Zoo entstanden waren. Jede noch so kleine Möglichkeit des Widerspruchs war mir genommen.
Mozart war kein Wunderkind. Wunderkinder sind voller Leichtigkeit, er musste arbeiten. Hätte er doch Fußnoten geschrieben statt Noten, und alle seine Kritiker wären so dagesessen wie ich vor meinem Safariparkelaborat.
Dann stieß ich auf die Lorikeets. Auf Seite fünf des eingereichten Aufsatzes. Die Abbildung zeigte die Futtermittelversorgung der Tiere. In einem der zehn größten englischen Safariparks. Von links kamen Pfeile, beschriftet mit Fleisch, Fisch, Trockenfutter, Papageienfutter, Obst und Gemüse. Die Pfeile zeigten auf Kästchen, die Namen trugen wie: Affen, Nilpferde, Seelöwen. Ein Pfeil mündete in ein Viereck mit der Bezeichnung Besucherzone. Die Affen bekamen Obst und Gemüse, einmal wöchentlich angeliefert. Die Seelöwen hatten mir’s angetan, sie wurden ebenfalls mit Obst und Gemüse versorgt, dazu Fisch. Dass sie im neuen Konzept Papageienfutter bekommen, fand ich nicht ganz in Ordnung. Wenn ich die Futterflussanalyse richtig verstand, waren die Besucher die einzigen im Park, die Fleisch zu fressen bekamen.
Über den Affen und Seelöwen waren die Lorikeets. LORI-KEETS. Sie erhielten Obst und Gemüse, jeden Donnerstag. Nichts sonst. Keine Fische, kein Trockenfutter, kein Fleisch. Vielleicht mochten sie das nicht so gerne, die Lorikeets. Aber man konnte ihnen niemals das gleiche geben wie den Affen. Lorikeets sind anders, in ihrem Verhalten, ihren Essgewohnheiten, ihrem Organismus. Kein Lorikeet würde Bananen fressen, die gehören den Schimpansen, und auch mit Sardinen oder Kokosnüssen ist er nicht aus seiner Höhle zu locken. Aber einseitige Ernährung mit Obst und Gemüse ist selbst dem Menschen nicht zuträglich, wie dann einem komplexen Organismus wie dem Lorikeet?
Was, zum Teufel, sind Lorikeets? Gemüsefressende Kriechtiere aus den chilenischen Weinanbaugebieten? Libellenartige Insekten aus Tansania? Fliegende Fische aus dem finnischen Meerbusen? Konvertierte Raubvögel auf dem vegetarischen Trip? Malaysische Riesenraupen? Verwandte des steirischen Kartoffelkäfers? Nachkommen urzeitlicher Monster, mit drei Hörnern auf der Stirn?
Fressen sie Gemüse, weil dies ihre Natur ist? Oder weil sie in diesem Top 10-Safaripark nichts anderes bekommen? Würden sie Körner fressen, wären sie in freier Wildbahn? Kokosnüsse? Blindschleichen? Eukalyptusblätter? Menschen?
Ich bin hier der Experte, bitte dies nicht aus den Augen zu verlieren. Mitglied des renommierten Komitees aus 17 hochangesehenen Persönlichkeiten der Wissenschaft, mit insgesamt 523 Jahren Forschungserfahrung. Die Quotenfrau aus dem mittleren Westen und ich drücken den Schnitt unwesentlich. Ich habe die Qualität der Inhalte dieses Safariparkfuttermittelversorgungsreorganisationsartikels zu bewerten. Ich kann hier keine Lücken zeigen. „Die Adäquanz der Versorgungsflüsse zum Systemobjekt Lorikeets kann hier nur aus Materialfluss-Sicht bewertet werden, nicht jedoch aus inhaltlicher.“ Nie würde ich dies schreiben. Das Eingeständnis! Die Schande! Der Gesichtsverlust! Ich kann es nicht. Die Rückantwort auf meine Bewertung sehe ich vor mir.
„Junger Freund, wir danken für ihre Bemühungen. Es ist nicht verwunderlich, dass Personen ihres noch in Entwicklung befindlichen Wissensstandes ob der Schwere der Aufgabe ihre Grenzen erkennen müssen. Dennoch wünsche ich Ihnen viel Erfolg für ihre wissenschaftliche Laufbahn, oder alles, was sie in Zukunft anstreben. Professor Emeritus J. Kawasaki, 2 stellvertretender Vorsitzender des Programmkomitees“.
An diesen blöden Lorikeets werde ich nicht scheitern. Ausrotten werde ich sie, das gemüsefressende Gesindel. Ihnen die Ohren abhacken. Den Kopf. Die Federn ausreißen. Die Stoßzähne ziehen. Die Flossen zusammenbinden. Sie den Nilpferden zum Fraß vorwerfen. Sie mit Gemüse ersticken.
Erschöpft schlief ich auf der Wohnzimmer-Couch ein, bis ins Bett schaffte ich es nicht mehr. Ich schlief unruhig und wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf. Schlief wieder ein und wachte auf, durch einen Schmerz. Etwas saß auf mir, drückte auf mein Brustbein, schnürte mein Herz ab, nahm mir die Luft zum Atmen. Ich öffnete die Augen, einen Spalt nur, schloss sie sofort wieder, musste sie wieder öffnen, ich konnte nicht anders. Eine Reihe starrender Zähne war knapp vor meinen Augen, und fauliger Geruch schlug mir ins Gesicht. Speichel tropfte aus dem Mundwinkel und rann meine Wange hinab.
Der Lorikeet saß auf meinen Beinen, mit der ganzen Last seines massiven Körpers. Wenig nur konnte ich erkennen, an den furchtbaren Zähnen vorbei. Die Haut war glatt und fleckig, schillerte in Grün und Gelb. Die Pranke hatte er auf meine Brust gesetzt, daher kam der entsetzliche Druck. Die Beine spürte ich nicht mehr. Das Monster starrte mich lautlos an.
Ich wollte mich befreien, mich losreißen, doch ich konnte mich nicht bewegen, nicht einen Zentimeter. Ich war gefesselt oder betäubt oder tot. Ich schrie los, doch kein Ton kaum aus meinem Mund. Das Monster starrte mich lautlos an.
Dann war es verschwunden, und über mir war die Wohnzimmerlampe. Die Sonne spiegelte sich in der Scheibe des offenen Fensters und warf helle Flecken an die Decke, die sich veränderten und formten wie Wasserlacken.
Mein Hemd war vollständig durchnässt, und das Brustbein schmerzte.
Ich hasse Lorikeets.
Ich werde zu verhindern wissen, dass dieser erbärmliche Schreiberling auf der Konferenz vorträgt.
© Helmut E. Zsifkovits 2008