Die Straße begann zu fallen. Im Grunde war es keine Straße, wir folgten den Fahrspuren einiger Geländewagen, die irgendwann hier gefahren waren. Das Asphaltband, von dem wir abgezweigt waren, war noch im Rückspiegel zu sehen, wurde schmäler und verschwand. Der Wagen holperte über Steine, wich einigen Kakteen aus, verschluckte Creosotebüsche, die ein hässlich kratzendes Geräusch auf der Bodenplatte erzeugten.
Sebastian saß am Beifahrersitz neben mir und schwieg. Als der Untergrund kurzzeitig etwas ebener wurde und meine Aufmerksamkeit sich etwas entspannen durfte, blickte ich ihn von der Seite an. Er saß nach vorne gebeugt und hielt sich am Türgriff fest. Seine Lippen waren aufeinandergepresst, seine Augen größer als sonst, geweitet von angespannter Erwartung, und gleichzeitig war da ein Leuchten. Bist du ok, fragte ich ihn. Er nickte und schwieg weiter.
Der Boden wurde wieder schwierig, ich musste nach vorne sehen. Das Gelände fiel stärker, gleichzeitig mischte sich der harte Untergrund mit Sand. In der Ferne war eine ebene Fläche zu erkennen, an deren Ende eine senkrechte Felswand, wie eine Mauer. Aber noch war der Abfall zu bewältigen. Der weiche Untergrund erzeugte wenig Geräusch, wir glitten wie auf Wasser dahin. Sebastians Atmen war zu hören. Wir rutschten nach unten, den einsamen Spuren nach, gezogen von Fahrzeugen, die für diesen Boden geeignet waren. Im Gegensatz zu unserem. Es wurde steiler, der Sand nahm zu, der Wagen rutschte, reagierte verzögert, widerstrebend auf meine Lenkmanöver. Ich konnte wenig tun, nicht stehenbleiben, nicht bremsen, nur starr nach vorne sehen und versuchen große Steine zu umschwimmen. Wir fuhren in einen Abgrund, auf einem Boden, der sich langsam nach unten neigte, zumindest schien es so. Wir fuhren in ein Loch, direkt zum Mittelpunkt der Erde, in Dürrenmatts Tunnel, jenem aus der Geschichte ohne Ende.
Hier kommen wir nicht mehr hinauf, hörte ich Sebastian neben mir sagen. Ich sagte nichts.
Das Land begann sich aufzurichten, ging über in die weite Ebene. Ich konnte langsamer fahren, versuchte ruhiger zu werden, musste aber in Bewegung bleiben, der Sand war hier noch tiefer, hatte sich in den tieferen Lagen angesammelt, vom Wind die Hänge herabgetrieben. Auf kleinen Hügeln wuchsen Creosotes und andere, niedrige Büsche, sonst war der Boden kahl und braun, ging langsam in die Gebilde aus Mud Stone, Schlammstein, zu beiden Seiten der Ebene über.
Die Reifen fanden Halt, das Fahrzeug war nun besser zu steuern, und ich wurde noch langsamer, ließ den Wagen auslaufen und kam an einer etwas erhöhten Stelle zum Stehen. Meine Hände sanken vom Lenkrad, ich atmete tief aus. Ich öffnete die Wagentür und stieg aus. Ein heisser Hauch schlug mir entgegen, brannte im Gesicht, trotz des späten Nachmittags herrschte glühende Hitze. Meine Knie zitterten, ich ging einen unsicheren Schritt vom Wagen weg, um nicht an das heisse Blech zu stoßen. Sebastian war auch ausgestiegen, stand neben seiner Wagentür.
Ich blickte ihn an, und er lächelte etwas verkrampft.
Er blickte mich an, und ich lächelte etwas verkrampft.
Wir blickten beide nach vorne.
Das Ende der Tiefebene war noch etwas entfernt, in einer Distanz, die ich für eine halbe Meile hielt, ich hatte begonnen in Meilen zu denken, als ich das Gefühl für Entfernungen zu verlieren begann. Eine Felswand, die fast senkrecht vor uns in die Höhe wuchs und in ihrer Bedrohlichkeit etwas Weiches hatte. Der Schlammstein sah aus wie formbarer Sand und erschreckte gleichzeitig durch seine scharfen Kanten, wollte uns in den Schatten seiner Furchen ziehen. Wie die Chollas, die uns seit Tagen begleiteten, Kakteen, so schmeichelnd in der Sanftheit ihrer Form, eine Art trägt den Namen Teddy Bear Cholla, nur darauf wartend dir weh zu tun, dir ihre heimtückischen Stacheln in die Haut zu stoßen.
In der Mitte der Wand war ein V-förmiger Einschnitt, der in das schlammigbraune Gebirge zu führen schien. Weiter konnte ich nicht sehen, nach einem kurzen Stück baute sich eine weitere Wand auf. Doch das war der Weg in das Innere, ich wusste das.
Ich drehte den Kopf zu Sebastian.
Willst du da hinein, fragte ich.
Etwas in mir hoffte, er würde Nein sagen und mich nicht zum schlechtesten Vater aller Zeiten werden lassen, verantwortungslos, rücksichtslos. Wir könnten noch zurück, ein Stück zumindest, bis der Anstieg zu steil würde und der Sand zu sandig. Wir könnten das Auto zurücklassen und die Meilen bis zur Straße gehen. Irgendwann würde ein Auto kommen und uns irgendwohin bringen. Und die Leihwagenfirma würde den Wagen irgendwie aus dem Tal bringen und uns eine horrende Rechnung schicken. Aber wir wären wieder in einem Dorf mit einem Motel und Telefonempfang und einem Burger King.
Ja, sagte Sebastian, und der Weg zurück war verbaut.
Musst du noch, fragte ich. Vielleicht können wir nicht so bald wieder stehen bleiben. Sebastian nickte. Wir entfernten uns in verschiedene Richtungen, hinter etwas, was sich in einem weniger extremen Klima zu Büschen auswachsen hätte können. Wir kamen gleichzeitig wieder zum Wagen und stiegen ein.
Ich nahm seine Hand und drückte sie.
Der Motor startete, das Lenkrad brannte in meinen Händen, und der Schweiß ließ mich mit dem T-Shirt verschmelzen. Langsam rollte der Wagen an und ergab sich dem Weg. Es ging ganz leicht, geradeaus, das Gelände fiel sanft, und wir rollten schwerelos dahin. Sebastian schaltete das Radio ein, die CD, die uns zum Soundtrack dieser Tage geworden war.
Beide hielten wir den Atem an, als wir durch das Tor des Canyons fuhren. Die Musik machte gerade eine Pause, und es war ganz still. Wir nahmen etwas von der Weite mit, es war viel Licht um uns. Wir glitten auf die Wand zu, erst kurz davor war zu erkennen, wie der Weg weiterging. Der Wagen machte eine Linkskurve und begann zu holpern. Der Sand durchsetzte sich mit Steinen, wir begannen den Boden zu fühlen. Die Wände des Canyons rückten näher und nahmen uns das Licht.
Ich fuhr langsam, blickte angestrengt nach vorn. Steine tauchten auf, denen ich ausweichen musste. Zum Bemühen nicht im Sand festzustecken kam nun die Herausforderung nicht auf einen der größeren Steine aufzusitzen. Der fahrbare Weg wurde enger, Felsen säumten die Seiten, kamen manchmal nahe an uns heran. Hier waren keine Büsche, nur Steine und Sand. Etwas schrammte über die Bodenplatte, wir zuckten beide zusammen, und die Musik steigerte sich in ihrer Dramatik.
Bist du ok, fragte ich Sebastian, konnte ihn aber nicht ansehen. Sebastian sagte etwas, was klang wie Mm.
Dann war ein Fels vor uns, und kein Weg schien vorbei zu führen. Der Boden war etwas fester, ich stoppte den Wagen, wir stiegen aus. Wenn du auf den flachen Stein links fahren kannst ohne aufzusitzen, kommen wir vielleicht vorbei, meinte Sebastian. Wir fuhren an, und es kratzte furchtbar über die Bodenplatte, aber wir passierten den Stein.
***********
Einmal schon war ich hier gewesen, vor einem halben Jahr. Damals war ich nur für mich allein verrückt gewesen hier hinunter zu fahren, und das erregende Gefühl hatte jedes Nachdenken besiegt, die Lockung des Unbekannten, die Schönheit, die sich mit jedem Schritt vorwärts bot.
Der Weg in den Canyon war der gleiche gewesen, und doch war vieles verändert. Damals war es mir einfacher erschienen, da hinunter zu fahren, vielleicht auch weil ich nicht wusste, was kommen konnte. Inzwischen hatten sich neue Hindernisse gebildet, waren von den steilen Felswänden abgebrochen und in meinen Weg gerollt.
***********
Wir fuhren in einem Wasserlauf ohne Wasser, einem Fluss, der nur ganz wenige Stunden ein Fluss sein durfte. Ich hatte es erlebt, wenn Regen das trockene Land überfiel, das versuchte das Wasser aufzunehmen, es nicht konnte ob der Fülle. Wenn Wasser einen Boden überzog, der sich nicht mehr erinnern konnte wie dieses schmeckte. Wenn Fluten über vertrocknete Talböden zogen. Wenn Sturzbäche dürre Canyons durchbrausten. Eines der faszinierendsten Bücher meines Leselebens schreibt über die zwei Arten in der Wüste zu sterben: durch Verdursten oder Ertrinken.
Wir würden nicht in einer Sturzflut ums Leben kommen, nicht heute. Aber irgendwann hatte Wasser diese Schlucht durchflutet, in den Monaten seit ich hier gewesen war, und hatte alles verändert. Einige Male stiegen wir aus, versuchten einen Weg durch die Steine zu finden, einmal waren wir daran aufzugeben. Nur weil wir wussten, dass der Rückweg genauso unmöglich war, fuhren wir weiter. Schrammten über Büsche, die wieder stärker wurden, über Steine, hofften, dass nicht der Tank oder die Ölwanne aufgerissen war, und bisher hatten wir Glück.
Manchmal öffnete sich der Canyon, und es war auf Angst machende Art schön. Wir standen und staunten. Seitencanyons ließen uns in sie blicken, und die Abendsonne malte Hänge aus Kakteen in Gold. Einige Tamarisken hatten der Hitze und der Kälte und dem Wasser getrotzt. Smoke Trees täuschten uns vor, sie wären einem Buschbrand zum Opfer gefallen, dabei hatten sie all das Leben in sich, das notwendig ist hier zu bestehen.
***********
Noch früher, einige Monate vor meinem ersten Hiersein, war ich an der Straße gestanden, Stichgrabung der Zivilisation in die Unberührtheit, und hatte in das unwirkliche Bild geblickt. Die zerfurchten Canyons unter mir, die Falten in der Landschaft, jede eine Geheimnis bergend, das Spiel von Licht und Schatten, das Schweigen bis zum Horizont. Ich hatte mir vorgestellt, da drinnen zu sein, ganz in der Mitte, in der großen Schlucht, umgeben von hundert anderen Schluchten. Ich war ganz sicher, dass es keinen Weg da hinein gab. Und keinen heraus.
Carrizo Badlands. Ödes, vertrocknetes, nutzloses Land. Bösland. Gab es einen Weg?
***********
Der Canyon wurde breiter, und gleichzeitig bedrohte der Sand unser Fortkommen. Wir mussten wieder schwimmen, und der Wagen suchte sich seinen Weg zwischen Felsen und Smoke Trees, die keine richtigen Bäume sind. Die Sonne tauchte nur noch auf, wenn die Schlucht eine Biegung in die richtige Richtung machte, dann gar nicht mehr. Die CD hatte geendet, und die Stille wurde bewusst. Ich ließ den Wagen nach links schwimmen, ein Stück in einen Seitencanyon, der sehr bald in eine Sackgasse mündete.
Hier bleiben wir, sagte ich zu Sebastian, und er nickte.
***********
Das Bild des faltigen Urgebirges hatte mich verfolgt, lange, und auf meiner nächsten Reise war ich wieder an der Straße gestanden und hatte in die nahe Ferne geblickt. Hatte einige Meilen weiter eine Abzweigung entdeckt, fast nicht zu erkennen, ein Schotterbett, das von der Straße wegführte und sich nach wenigen Metern nach unten neigte. Dorthin war ich gefahren, den Fahrspuren einiger Geländewagen nach, die irgendwann hier gefahren waren. Das Asphaltband, von dem ich abgezweigt war, war noch im Rückspiegel zu sehen, wurde schmäler und verschwand. Der Wagen holperte über Steine, wich einigen Kakteen aus, verschluckte Creosotebüsche, die ein hässlich kratzendes Geräusch auf der Bodenplatte erzeugten. Am rechten Rand stand ein verwittertes Schild, etwas schief.
Canyon sin Nombre.
***********
In Sebastians Augen stand ein stilles Lächeln, als er da stand und auf die gegenüberliegende Höhe blickte. Die Sonne war verschwunden, zeichnete aber noch ein Feuer-Rot auf den Himmel vor uns. Und auf Sebastians Gesicht. Wir schafften Ordnung im Auto, solange wir noch ein wenig Licht hatten. Der Sand war eingedrungen, überall. Er war auf dem Auto, auf unserer Kleidung, auf allen Dingen im Auto, klebte auf unseren Gesichtern. Alles was wir in der Nacht brauchen könnten, legten wir uns in Griffweite zurecht, so wir es von den letzten Tagen gewöhnt waren. Wir verschlossen das Auto, fragten uns, wozu wir dies taten, und gingen los. Bald war es völlig finster, die Nacht war mondlos, ich hatte eine Taschenlampe mitgenommen und leuchtete den Weg aus. Wir schritten lautlos durch den weichen Sand des trockenen Flussbettes, stolperten über Büsche und erreichten die andere Seite, wo sich die Schlucht öffnete und in steilem Winkel nach oben führte. Mit der Lampe leuchteten wir die Wände ab und fanden einen Weg, der vielleicht eine Möglichkeit bot zum oberen Rand des Canyons aufzusteigen.
Wir gingen zurück und setzten uns ins Auto. Es war noch nicht spät, zu früh um zu schlafen, aber die Hitze des Tages und die Anspannung der Fahrt in den Canyon hatte uns zugesetzt, und wir konnten hier nichts tun. Nur reden in der Dunkelheit. Nach Essen war uns nicht, wir aßen wenig in diesen Tagen, der Körper wird sparsam in der Welt der Kargheit. Ich stieg noch einmal aus, tastete mich den Wagen entlang und holte eine Flasche aus dem Kofferraum, schaltete die Innenbeleuchtung ein, nahm das Taschenmesser, das griffbereit in der Mittelkonsole lag und zog den Korken heraus. Sebastian hielt mir zwei Becher hin, die wir vor Tagen aus dem letzten Motel mitgenommen hatten, ich goss ein. Prost, sagte Sebastian, und wir stießen an. Auf unser Hiersein, auf unsere Gemeinsamkeit. Der Wein war etwas zu warm, viel zu warm, aber kein Wein hat je so gut geschmeckt. Luxus in der Dunkelheit einer einsamen Wüstennacht. Wir tranken in kleinen Schlucken, fühlten das sanfte Prickeln auf der Zunge, benetzten die vertrockneten Lippen und redeten, leise, mit Pausen, mit aller Intensität die ein Gespräch zwischen einem Vater und seinem Sohn haben kann. Über die Zeiten, die wir gemeinsam erlebt hatten, über die Zeiten, wo wir uns wenig gesehen hatten, als ich das Haus verlassen hatte, weggezogen war. Sprachen Dinge aus, die wir beide wussten, die uns beschäftigt, bedrückt hatte, lange, die wir nie ausgesprochen hatten. Als die Becher leer waren, fragte Sebastian, ob er nachschenken sollte.
Der Wein begann zu wirken, der ausgelaugte Körper sprach stärker an auf den Alkohol, und eine schöne Schwere stellte sich ein. Sebastian schloss die Augen und begann tief zu atmen. Ich schaltete die Beleuchtung aus, lehnte den Sitz zurück und überließ mich meinen Ängsten.
Wir waren die Seitenschlucht hinaufgefahren, soweit es ging, bis es so eng wurde, dass das Auto feststeckte. Kein Mensch würde in dieser Nacht in den Canyon kommen, und doch wollten wir unsichtbar sein in unserem Versteck. Wer hier auftauchen würde, wäre gefährlich. Wir waren nahe der mexikanische Grenze, und immer wieder versuchten illegale Einwanderer in der Nacht den Wüstenstreifen zu durchqueren, im Schutz der Dunkelheit und um sich nicht der Gluthitze des Tages auszusetzen. Wenige schafften es, viele wurden an den Straßen aufgegriffen oder kamen um, verdurstet und orientierungslos. Wenige Tage später würde ich lesen, dass in zehn Jahren an dieser Grenze dreitausend illegale Immigranten gestorben waren. Jedoch, kein Mensch im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte würde auf dem Weg in den vermeintlich besseren Norden in diese Schlucht eindringen.
Die Temperatur war drückend, schwül, auch zu dieser Stunde noch, alles klebte am Körper. Ich öffnete das Wagenfenster, konnte nichts sehen, aber die ausgestreckte Hand stieß an die Felswand, auf das lehmig-weiche Material, auf etwas Hartes, das darin eingelassen war. Ich zog die Hand zurück und schob das Fenster wieder halb hoch. Kurz hatte ich das Gefühl gehabt, etwas aus der Wand würde mich anspringen. Einbildung sicher, die unsichtbare Wand starrte mich an und bedrohte mich.
***********
Als ich zuletzt hier gewesen war, allein, hatte ich mich in den Canyon vorgetastet, ahnungslos und voller Neugier. Der Boden war besser befahrbar gewesen, und ich war immer weiter eingedrungen, mit einem für dieses Land gänzlich ungeeigneten Fahrzeug. Immer wieder blieb ich stehen, wenn der Boden dies erlaubte, ging zu Fuss weiter, zu erkunden, ob ich das Auto um oder über das nächste Hindernis bringen könnte. Nach zwei Meilen war ich am Ende des Canyons, fuhr durch eine weite Ebene, durch das Bett des vertrockneten Flusses, bis zum Zusammenfluss mit einem weiteren vertrockneten Fluss. Carrizo Creek meets Vallecito Creek, erzählte meine Landkarte. Direkt an der Einmündung war ein weites Loch, gefüllt mit weichem Sand, in dem die Füße tief einsanken. Unmöglich, hier mit dem Auto weiter zu fahren. Ich war umgekehrt, den ganzen Weg zurück, es gab keinen anderen Ausgang. Schaffte es bis zum Canyon, durch diesen durch, die Bodenplatte des Wagens war zerbeult und zerkratzt, aber sie hielt. Kritische Momente erlebte ich am letzten Abschnitt vor der Straße, der Wagen rutschte am sandigen Steilhang, und mehr als einmal geriet ich in den tiefen Sand und musste das Fahrzeug am Laufen halten, um wieder herauszukommen.
Es war eine Erleichterung gewesen, dem Gefängnis der Schlucht entkommen zu sein, aber sie hatte mich nicht losgelassen. Zwei Tage später war ich wieder dort gewesen, über die sandige Rinne in die Tiefe gerutscht, war bis zu der Stelle gelangt, wo ich heute stand. Hatte den Gedanken gefasst die Nacht im Canyon zu verbringen, war Seitenarme hinaufgewandert, um zu sehen, wo ich das Auto sicher abstellen könnte. Nicht wissend, wovor ich sicher sein wollte oder musste. Dann hatte ich einen Seitencanyon gefunden, der sich nach einigen Metern verzweigte, hatte mich den rechten Ast entlang vorgetastet, bis es nicht mehr weiter ging. Hatte dort im Auto geschlafen und war in eine Welt der Wunder erwacht, hatte einen unglaublichen Sonnenaufgang erlebt. Am nächsten Tag war ich nochmals ans untere Ende des Canyons gekommen, weiter gefahren bis zum Treffen der Flussbette. War das Ufer entlanggewandert, um einen Übergang zu finden. Ein Stück weiter südlich hatte ich ein weiteres Flussbett entdeckt, das in einem flacheren Winkel in den Vallecito Creek einmündete. Es hatte viel Überwindung gekostet so schnell wie möglich auf die Stelle zuzufahren und das Auto mit viel Schwung durch den Sand auf den Untergrund des kreuzenden Flussbetts treiben zu lassen, zu wissen, dass es diesmal kein Zurück mehr gab.
***********
Wieder war ich da, an der Stelle, an der ich damals die Nacht verbracht hatte. Ich wollte diese unglaublichen Tage nochmals leben, gleich, anders, neu. Damals war ich geflüchtet, vor den Menschen um mich und vor mir. Heute war Sebastian mit mir, und ich wollte ihn mitnehmen in dieses Abenteuer meines Lebens. Dorthin, wo mich niemand sonst begleiten durfte.
Und ich hatte Angst, Angst vor dem was passieren könnte. Das Gefühl Sebastian in eine sehr gefährliche Situation gebracht zu haben. Der Canyon drohte uns zu verschlingen. Das letzte Mal hatte ich es geschafft, hinaus zu kommen, über die Einfahrtsroute und nach einer langen Fahrt durch weiche Flussbetten. Jetzt war alles anders geworden, neue Steine hatten sich in den Weg gelegt, neue Löcher gebildet. Nach oben hin war ein Entkommen nicht möglich, und ich wusste nicht, was uns nach dem Ausgang des Canyons erwartete, ob es eine Chance gab ins andere Flussbett zu kommen. Der Morgen würde entscheiden.
Wir hatten nicht viel Zeit, wenn wir hier irgendwo feststeckten. Niemand würde kommen und uns herausholen. Der Weg zur Straße war weit, Stunden in extremer Hitze von fünfundvierzig Grad und mehr. In der Nacht konnten wir nicht gehen. Wir hatten nur noch wenig Wasser und eine halbe Flasche Wein.
Ich war erschöpft und konnte doch nicht schlafen, dämmerte dahin, bis mich ein Geräusch hochriss, schlief kurz ein, wachte kurz darauf wieder auf und hing in meinen Gedanken zwischen der Euphorie des Moments und der Ungewissheit vor dem Morgen fest. Irgendwann spät verließ mich das Bewusstsein, und meine Angst verlagerte sich in schweißgebadete Träume. Ein großes Tier setzte sich auf mich und raubte mir den Atem.
Um fünf Uhr wachte ich auf, pünktlich, wie jeden Morgen. Ein Geräusch war vor dem Auto zu hören, ein Surren und Sausen, das näher kam, in ein Pfeifen überging und dann verschwand. Es war noch zu dunkel, und meine Augen waren noch zu wenig an die Umgebung gewöhnt um etwas erkennen zu können. Fast klang es, als ob etwas oder jemand das Auto angriff. Ein Geräusch, das sich näherte, sich steigerte und über das Autodach verschwand. Ich glaubte einen Schatten zu erkennen. und schaute angestrengt in diese Richtung. Ein kleines dunkles Etwas näherte sich, flog die Windschutzscheibe hinauf und verschwand. Das Licht war etwas heller geworden, und das kleine dunkle Etwas zeigte ich als Vogel, als ganz kleiner Vogel. Ein Kolibri griff uns an! Wir waren in seinen Bereich eingedrungen. Er flog auf die Windschutzscheibe zu, ich vermeinte das Krachen des Aufpralls zu hören und schloss die Augen, aber da war als Geräusch nur das hohe Surren, das sich entfernte. Der kleine Vogel hatte Zentimeter vor dem Feind abgedreht und nahm neu Anlauf. Bis ich aus meinem Dämmern erwacht und ganz munter war, war er verschwunden.
Sebastian drehte sich zu mir und sagte, Guten Morgen. Fünf Uhr elf, sagte ich, die Sonne geht bald auf.
Die Landschaft vor uns war in dunklen Umrissen zu erkennen. Der Seitencanyon führte leicht bergab, bis zu der Stelle, wo er mit einer leichten Biegung nach links in das trockene Flussbett mündete. Die Felswand gegenüber lag noch im Dunkel, der Himmel darüber hatte eine zart orangerote Färbung angenommen. Mir war, als würden mich Augen ansehen, funkelnde Punkte in der schwarzen Wand.
Ich stieg aus dem Auto. Mich fröstelte. Die Nacht war kalt gewesen, oder das, was wir als kalt empfanden, nach der Hitze des Tages. Sebastian stand hinter dem Auto und machte sich im Kofferraum zu schaffen. Beide sprachen wir nicht. Es war, als ob wir dieses Erwachen oft schon erlebt hatten. Ich hatte ihm erzählt von den kalten Morgen und dem ersten Licht und dem Drang nach oben und der Freude, wenn die Sonne da war. Vom Ablauf meiner Tage, die in der Wüste so anders waren als meine gewohnten.
Sebastian stand mit nacktem Oberkörper da, trotz der Kälte, putzte die Zähne, nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, einen winzigen nur, und spuckte in den Sand. Ich streckte mich, machte einige Liegestütze im Sand vor dem Auto, langsam wich die Steifheit aus den Gliedern. Sebastian hatte ein frisches Shirt angezogen und fuhr mit den Fingern durch die Haare. Ich wechselte auch das Shirt und zog darüber eine ärmellose Jacke, setzte eine Schirmkappe auf, steckte Messer und Verbandszeug ein. Sebastian rieb sich die Hände mit Sand sauber, das kostbare Wasser wollten wir dafür nicht verwenden. Ich packte den Rucksack, einige Scheiben Sandwich, Schinken, zwei Äpfel, die Wasserflasche, die Kamera. Sebastian zog seine Jacke an, schloss den Kofferraum, ich versperrte das Auto.
Wir gingen los, den Seitenarm hinunter, zum Hauptcanyon, dort bogen wir nach links. Der Boden war nun gut zu sehen, trotzdem war es schwierig voranzukommen. Wir versanken im Sand, dann waren da wieder große Steine und dürre Äste. Stachelgewächs verfing sich in den Hosenbeinen.
Nun erst sprachen wir, wenig. Ich freue mich auf die Sonne, sagte Sebastian. Wir müssen rasch auf den Berg kommen, der Himmel wird schon hell, sagte ich. Wir querten den Canyon, der sich an dieser Stelle nach Osten hin öffnete, durchwanderten das trockene Flussbett, stiegen über die steinigen Rippen in der Mitte der Schlucht, überwanden das zweite, im rechten Teil verlaufende Flussbett. Einige felsige Grate zogen sich in die Höhe, führten zum Canyonrand, ohne jede Vegetation, wie es schien.
***********
Als ich vor Monaten hier gewesen war, hatte ich einen dieser Grate gewählt, um aufzusteigen. Es war Abend gewesen, es dämmerte und die Beschaffenheit des Bodens war nur schlecht zu erkennen. Nur sehr langsam kam ich weiter, kletterte ein Stück und rutschte wieder zurück. Auf dem schmalen Grat war es schwierig zu gehen, aber es war auch unmöglich die Flanken hinaufzusteigen, diese waren abschüssig und mit losem Geröll übersät. So kletterte ich, auf allen Vieren, glitt aus, rutschte, stürzte, raffte mich wieder auf. Ich wusste, ich würde nicht weit kommen, und ich musste bald umkehren, wollte ich heil nach unten kommen. Alles, was ich wollte, war, einen Weg zu finden, auf dem ich am Morgen aufsteigen konnte. Einen Weg in die Sonne.
Dann ging es besser voran, mich packte der Ehrgeiz, es doch bis oben zu schaffen. Der Rücken war nun etwas breiter, flacher, und ich konnte schneller steigen. Schon sah ich ihn vor mir, den Rand des Canyons. Ein Stück noch, den Blick einsaugen, mir vorstellen, wo die Sonne am Morgen aufgeht, dann schnell umkehren. Dann war da ein Spalt vor mir. Zu schmal, als dass ich ihn früher hätte sehen können, zu breit um ihn zu überwinden. Keine Möglichkeit da hinauf zu kommen.
Der Abstieg war schwierig, aber ich konnte mir nun Zeit lassen. Es war eine mondhelle Nacht, und ich schaffte es mit einiger Kratzern und Abschürfungen bis zum Boden des Canyons.
Und ich hatte auf meinem erfolglosen Aufstieg den Weg gesehen, der ganz nach oben führte.
***********
Den ging ich nun, mit Sebastian. Es war halb sechs. Wir verließen das ausgetrocknete Wasserbett und stiegen in eine kleine Rinne ein, die von herabstürzenden Wasserfluten in den Schlammstein gerissen worden war. In dieser trockensten aller Welten war das Wasser überall präsent, hatte das Land zu dem gemacht was es war, veränderte es ständig und war doch nirgendwo zu sehen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie nach einem der seltenen Regenfälle die tosenden Wasserfluten aus der Wand stürzten, alles mitrissen und das Flussbett füllten, das eine erst, dann das zweite, dann den ganzen Canyon. Wie Sand und Steine mitgezogen wurden, wie sich die Smoke Trees und Tamarisken gegen das Inferno wehrten, die Kolibris aufgeregt flirrten und die Wüstenratten in ihre Höhlen flüchteten. Und wie anders der Canyon aussah, als das Wasser wieder verschwunden war, wenige Stunden später.
Die Rinne war mit Geröll gefüllt, einige Male versperrten große Felsbrocken den Weg.
Wir kletterten diese hinauf, suchten uns einen Pfad, in der Rinne, über deren kakteenbestandenen Rand oder am Grat rechts davon. Der Boden wurde weicher, die scharfkantigen Steine wichen hellbraunem Lehm, der Anstieg lief aus in einen schmalen Bergrücken.
Vor uns stürzte der Berg ab, in eine zerfurchte Mondlandschaft. Der Rücken war ein kleines Hochplateau, etwa zehn Meter lang, zwei Meter breit, auf drei Seiten steil abfallend. Hinter uns der Weg, den wir aufgestiegen waren, vor uns ein fast senkrechter Felssturz, nur ein schmaler Grat führte etwas sanfter nach unten. Darunter eine weite Ebene, in einiger Entfernung eine Bergkette, dahinter noch eine, und noch eine, und noch eine. Die uns zugewandten Felswände waren noch im Dunkel, darüber trug der Himmel bereits das Licht des Morgens. Hier würden wir den Tag begrüßen.
Sebastian saß am Boden und atmete tief. Die Jacke hatte er ausgezogen. Sein Gesicht war gerötet, von der Anstrengung und vom Widerschein des Himmels, der intensive Farben angenommen hatte. Magst du etwas essen, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. Später. Ich setzte mich neben ihn. Es war sechs Uhr sieben.
Der Osthimmel war in Erdtönen gefärbt, gelb und orange und braun und rot, von Minute zu Minute gesteigert in seiner Helligkeit. Die Wolken waren verwischte Pinselstriche. Ein Lichtstrahl stieg auf vor uns, ein winziges Funkeln erst, dann ein größer werdender Fleck, der sich zu einem Kreissegment formte, das runder und deutlicher wurde und zu einem perfekt geformten feuerroten Ball aufstieg.
Wir saßen und schauten. Wir fühlten die Wärme und das Licht. Wir sprachen nicht und verstanden uns wortlos.
Magst du etwas essen, fragte ich, nach einer Zeit, nach drei Minuten oder zwei Stunden. Sebastian sagte Ja, und nun erst bekam der Tag eine Stimme.
© Helmut E. Zsifkovits 2008