Zuggeschichte

Ein fiktionaler Extrakt einer Autobiographie

Zuggeschichte

Sie studierte Literatur. Aber viel lieber studierte sie das Leben. So saß sie eines Tages im Zug nach Graz, nahm ihre Mappe über Britische Literatur des 20. Jahrhunderts heraus und tat so, als ob sie lernen würde. Im Abteil, einem geschlossenen Abteil der Österreichischen Bundesbahnen, saßen außerdem drei Frauen, eine wesentlich jünger als sie, mit pinkgefärbten, kurzen Haaren und einigen Piercings, und eine Braunhaarige (aber irgendwie auch nicht naturecht ), die scheinbar etwa gleich war alt wie sie, was man heutzutage ja nicht mehr so genau schätzen kann. Die dritte Frau war wesentlich älter, mit ersten grauen Haaren – naturecht. Diese unterhielt sich mit der Frau mit den braunen Haaren über Schwarze. Afrikaner. “Ja, das is halt so wie bei uns. Da gibst auch schöne und net so schöne Männer. Der von Herzblatt, der Moderator, der g‘fällt mir.“ Wobei die jüngere Frau meinte: “Schweizer sind fesch“. Die Lebensstudentin überlegte kurz: “Wie sehen eigentlich Schweizer Männer aus?“ Sie kannte keine – nur eine Schweizerin, die eine Bibelschule in England besucht und dort Bäume einpflanzt und Gott dankt. Sie machte sich kurz eine Notiz: “Schweizer Männer kennenlernen!“ Das Mädchen mit den pinken Haaren, saß – Füße zusammengezogen auf dem gepolsterten Ausziehsessel der ÖBB und hörte Walkman. ‘Walkman hören‘ war ein Metonym. So wie Joyce lesen, wenn man seine Werke meinte. Das steht so in ihrem Kurzlexikon der Literatur. Sie wirkte sehr burschikos. Androgyn. Lesbisch? Die Lebensstudentin haßte Klischeedenken, also strich sie die letzten Gedanken wieder aus der Mitschrift in ihrem Kopf.

Als die Durchsage “Wir erreichen in Kürze Bruck an der Mur“ durch den Lautsprecher im Abteil durchkrächtzte, stand die ältere Frau auf, zog ihren Mantel an, wickelte sich den Schal um und hängte sich dann eine ätzend ausschauend rote Tasche um, die einer Kindergartentasche ähnelte, nur eben größer war. Irgendwie schien es, als würden plötzlich alle auf diese Tasche starren und die ältere Frau meinte daher: „Ich bin die Christl von der Post“, was die Lebensstudentin im ersten Moment wörtlich nahm. “Wieso erzählt sie uns das? Wieso stellt sie sich erst vor, wenn sie kurz davor ist, den Zug zu verlassen?“ — Die Christl von der Post. Oder war das eine idiomatische Redewendung? Eine Metapher? Das höfliche Lachen der Frau mit den braunen Haaren verriet dann alles. Haha. Die Christl von der Post! Ein Witz also.

Jedenfalls stieg dann die Christl von der Post mit den grauen Haaren und dem Faible für den Herzblattmoderator in Bruck aus.

Kaum war diese aus dem Abteil draußen, fielen ein paar Bemerkungen über die rote Tasche und schon war die Lebensstudentin mit ihrem Studienobjekt im Gespräch. Binnen kürzester Zeit stellte sich heraus, dass die mit den braunen Haaren erst siebzehn war, im letzen Lehrjahr als Tapeziererin stand und gerade von ihrem Freund aus der Schweiz verlassen worden war. Vier Tage vor Weihnachten! Mitfühlend fragte die Literaturstudentin wann sie denn mit ihm zusammengekommen sei. “Zwei Wochen vor Weihnachten“, was das Mitgefühl schlagartig minderte. Naja, aber andererseits war sie ja erst siebzehn und da tut das Sitzengelassenwerden nach einer Zehn-Tage-Beziehung bestimmt sehr weh. Vor allem in Österreich sitzengelassen zu werden, da er als Schweizer, als fescher Schweizer, ja in der Schweiz lebt und nur kurz auf Besuch in Österreich gewesen war. Die Studentin war kurz davor der Tapeziererin zu raten, dass sie einfach einen Tapetenwechsel brauche, aber sie wußte nicht, ob diese Bemerkung – ein Tapetenwechsel – (war DAS eine Metapher oder ein Idiom ?) nicht als Sarkasmus aufgefaßt werden würde, was sie auf keinen Fall beabsichtigte. Sie begann dann in Gedanken ein paar ihrer Beziehungsordner durchzublättern, vor allem jenen mit der Aufschrift “Sieben Jahre. Verflixt“, um nach Tips zu suchen, fand aber keine. Der Ordner hieß ja auch nicht “ Wunderbare Jahre, so einen hatte sie erst vor kurzem angelegt. Er steht leer in ihrem Kopfregal, gleich neben einer Zitatesammlung über die Liebe. Ob sie daraus zitieren sollte?

Um das Schweigen zu durchbrechen, zeigte die Tapeziererin mit dem Finger auf die Glasscheibe des Wagons und fragte in infantiler Art: „Was is`n das?“ Und meinte damit ein Staukraftwerk der Mur südlich von Bruck, was ihr als ebensolches erklärt wurde.

Auch das Mädchen mit den pinkgefärbten Haaren klinkte sich nun ins Gespräch ein. Sie war, wie sich herausstellte, achtzehn, hatte eine abgeschlossene Lehre als Bäcker (wieso sagte sie Bäcker und nicht Bäckerin) hinter sich und war nun auf der Suche nach einem Tapetenwechsel, genauer gesagt, einem Jobwechsel. Die Tapeziererin und Studentin redeten abwechselnd auf sie ein, dass sie sich gut vorstellen könnten, dass die Bäckerin als Sozialarbeiterin – Streetworkerin oder so was– arbeiten könnte. Nein, nein dazu müßte sie lernen und das wolle sie nicht und sie war froh überhaupt das Poly geschafft zu haben. Die Studentin, nun auch am zweiten Studienobjekt höchst interessiert, fragte, was sie denn für eine Musik höre „Tocotronic“.

Ihr Blick viel auf eine Tageszeitung, die zurückgelassen im Abteil lag. „Tageszeitung. Wer liest die denn schon noch, wenn man Ulysses kennt.“ Plötzlich zeigte die Braunhaarige wieder auf eine Stelle an der Glasscheibe und fragte “Und was ist das?“ Eine Burg…Ruine?!“ Aber das sah man doch und Genaueres konnte die Studentin auch nicht sagen. Bald würden sie Graz erreichen. Das Gespräch zwischen den Dreien riß nun leider ab, vor allem zwei Männer in Gratkorn ins Abteil wollten, die sich dann nicht miteinander sondern mit Handys unterhielten. Wie langweilig, wie schade. Der Zug fuhr in den Endbahnhof in Graz ein, jeder zog sich an, nahm seine und ihre Tasche und wünschte sich einen Guten Rutsch, denn es war ein Tag vor Silvester. Man verließ das Abteil der ÖBB, den Zug, den Bahnhof und ging getrennte Wege. Die Lebensstudentin schloß ihren Ordner mit der Aufschrift “Zuggeschichten“ und nahm den Bus zu ihrer Wohnung.

© Martina Pfeiler

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