Porto Bello Girls: Erstes Kapitel

Mitte der Zweitausendnuller Jahre, irgendwo im Süden Österreichs:

Samstag

(1)

An der Kreuzung zweier leidlich dicht befahrener Innenstadtstraßen liegt ein Park der so klein ist, dass er die Bezeichnung Park eigentlich kaum verdient. Ein lieblos bepflanztes Blumenbeet, von brüchigem Beton gerade einmal notdürftig umrahmt. Ein sternförmiger Kiesweg und insgesamt vier grüne Plastikbänke. – Um es mit einem treffenderen Wort zu sagen: Ein Hundekotmagnet.

Auf einer dieser Bänke sitzt Paul. Und das ist kein Zufall, denn es ist seine Bank, nur sie kann er vom Küchenfenster seiner Wohnung aus beobachten. Paul lächelt. So stark ihm der spätherbstliche Wind im Moment auch ins Gesicht fährt, er spürt die Kälte nicht. Zu schön sind die Gedanken an das Mädchen, das er eines Tages hier entdecken wird, wenn er seinen Blick durchs dampfende Spaghettiwasser gleiten lässt. Ein Mädchen in einem geblümten Sommerkleid und er wird sich nicht sicher sein, ob das Dampf ist, der seine Küchenfensterscheibe beschlagen hat, oder doch ihre Tränen, die er über die weite Distanz ja niemals erkennen dürfte.

Wie wird er da auf einmal verfluchen, dass er keinen Hund hat, mit dem er jetzt wie zufällig nach unten gehen könnte. Aber dann wird er den Brief bemerken, in ihrer Hand und verstehen, warum sie ihren Rücken krümmt und das Gesicht in den Händen vergräbt, was er aber schon gar nicht mehr sehen wird, weil seine Schritte längst durchs Treppenhaus hallen. Hinunter. Und wenn er dann neben ihr steht und sie fragt, ob es ihr denn gut gehe und sie aufblickt und ihn ansieht, mit DIESEN Augen, ja, dann wird sich schnell eins zum andern ergeben.

Im Winter darf das Mädchen auch eine hellblaue Jacke tragen und hellblaue, fellbesetzte Fäustlinge aus demselben Stoff. Die werden neben ihr im frisch gefallenen Schnee liegen und die zarten Finger schon ganz blau sein, wenn sich Paul endlich vor sie hinkniet, zärtlich ihre Hand ergreift und flüstert. „Es sind nicht alle so wie er…“

Gut, an dem Satz feilt er noch, aber vielleicht wird er auch gar nicht bis zu seiner Traumfrau kommen, weil er ihren Dobermann übersehen hat. Und sie sich dann vielmals für den Biss entschuldigen, den er ganz männlich als kleinen Kratzer abtun kann, während sie verschämt ihre Augen zur Seite dreht – ihre tiefschwarzen Augen! Wie auch immer, auf dieser Bank, da wird sich eines Tages sein Schicksal erfüllen. – Aber nicht heute.

Heute streicht Paul im Aufstehen unbewusst über den freien Platz an seiner Seite. Längst spürt er den Wind. Alles andere als warm. Nicht wie vergangene Woche, als er auch hier gesessen hat:

Einem täglichen Ritual folgend hatte er den Inhalt seines Briefkastens unter eine Achsel geklemmt, um ihn direkt zum Altpapier zu tragen. Doch als er dazu gerade die schwere Holzeingangstüre aufgeschoben hatte, da ist es passiert. – Baff!! – So, wie man es aus dem Fernsehen kennt, wenn sich gute Freunde, die eine Überraschungsparty organisiert haben, hinter den Möbeln versteckt halten. So ist ihn damals die Sonne angesprungen. Und hat laut „Überraschung!“ geschrien und mit ihr der Föhn, der die ganze Stadt auf mindestens zehn Grad über dem erwärmt hatte, was Paul dem Tag nach einem gelangweilten Blick aus seinem Wohnzimmerfenster eigentlich zugetraut hatte. Diesem belanglosen Tag, den er schon beim Aufstehen abgeschrieben hatte: Zum Fernseher, die Senderliste durchgezappt und gleich wieder zurück ins Bett. Kreta verflucht, sich doch noch einmal zum Fernseher geschleppt und immerhin zwei Kochshows angeschaut, obwohl er schon seit Wochen nicht mehr gekocht hatte. Den Tag, die Welt, das Leben und zum wiederholten Mal Kreta verflucht.

Und dann hat er staunend in der Wärme gestanden und es war wirklich seine eigene Stimme und nicht etwa die seines Vaters, die zu ihm gesagt hat: „Siehst du. Das alles versäumst du jeden Morgen. Jetzt geh gefälligst raus und mach etwas – irgend-etwas. Sieh wenigstens zu, wie das Leben um dich herum weiterläuft, während du in deiner Traumwelt vergammelst.“

Noch in den Schlapfen ist Paul in den Park gegangen und hat sich auf seine Bank gesetzt. Die unerwartete Wärme hatte die Luft so leicht gemacht. Fast war ihm, als bräuchte er nicht einmal zu atmen, als würde sie von selbst bis tief in seine Lungen fließen.

Er hat einfach nur dagesessen und die Wolken betrachtet, die Strahlen der Sonne genossen, die unsichtbare Kamera laufen lassen, sich vieles von der Seele geredet und als ihn sein Fernseher schließlich nach oben rufen wollte, da hat er sogar einen Moment lang gezögert.

Gezögert – und wenn auch nicht widerstanden, so hat er sich in diesem Moment zumindest eines geschworen: Ab jetzt jeden Tag um acht Uhr aufzustehen, durch die Stadt zu spazieren, über die Hektik der Anderen zu lächeln, um zwei Stunden später mit dem fremden Gefühl wieder nach Hause zu kommen, schon etwas erledigt zu haben.

Paul wirft einen langsamen Blick auf seine Uhr: Kurz vor halb Neun. Und damit endgültig genug sinniert für heute!

Der Park ist nur eine Frage von ganz wenigen Schritten. Er biegt nach rechts und überquert die zweispurige Straße bei seiner Bushaltestelle. Überraschend wenig Verkehr heute. – Stimmt ja, Wochenende! – Und da wäre er um ein Haar mitten auf der Straße stehen geblieben. Samstag, so ein Mist! Am Nachmittag gerade mal eine Folge seiner Lieblingsserie. Gefolgt von einem Sonntag, den er komplett ohne die Porto Bello Girls wird totschlagen müssen. Dieses vermaledeite Wochenende! Wer hat das nur erfunden?

Auch wenn er sich zum weitergehen zwingt, Pauls Elan ist dahin. Keine Wiederholung der gestrigen Abendfolge am Vormittag, kein gemütlicher Nachmittag mit drei alten Folgen in einem Stück. Und dann erst der Abend. Der Samstagabend! Wer da nichts vor hat, der ist doch… der…

… der sollte schon am Vormittag damit beginnen, sich endlich einmal zusammen zu reißen!“ Paul schüttelt den Kopf und macht einen betont kraftvollen Schritt in die entgegengesetzte Richtung. Elan! Jawohl! Links, zwo, drei, vier! Mit Schwung! Und die Augen auf! Wo ist er hier eigentlich? An diesem Reisebüro, da muss er doch jeden Tag dran vorbei kommen. Warum bemerkt er es dann gerade zum ersten Mal? Schon klar, Verreisen ist nicht sein Ding, aber wenn ihm vor fünf Sekunden noch jemand ein Foto gezeigt hätte: „Kennen sie dieses Haus?“ Er hätte es ohne zu zögern verneint. Vielleicht muss man für neue Eindrücke gar nicht so weit gehen. Manchmal reicht es schon, seine Augen ein Stück weit zu öffnen. Einen Versuch ist es allemal wert. Gleich hier:

Also ein Reisebüro. Was noch? Bei der Lage ist das hier sicher keine Goldgrube. Die Eingangstür ist abgeschunden, die Schaufenster könnten auch sauberer sein und auf diesem Plakatständer hat der nächtliche Regen die handgeschriebenen Buchstaben weit nach Unten gezogen. Müde Augenringe. Paul kommt einen Schritt näher. „Restplatzangebote Griechenland:“ Fehlt nur noch, dass sie auch … Aber natürlich! „4 Sterne Halbpension um 449.-“ Oh, diese verdammte Zwiebel!

Jetzt hat er Kretas Geburtstag gerade halbwegs verdaut, kann sie ihn da nicht einfach in Ruhe lassen? „Zwiebelschale!“ drückt seine Verachtung noch besser aus. „Verfaulte Zwiebelschale!“

Kreta hat es einmal bemerkt – so wie Kreta immer alles bemerkt hat: „Ist dir noch nie aufgefallen, dass du alles, was du magst mit Tiernamen, Dinge die dir missfallen aber als Obst und Gemüse ansprichst?“

Paul hat sie nur fragend angesehen.

Beispiel?“ hat sie daraufhin gesagt – so wie Kreta immer „Beispiel?“ gesagt hat, ohne auf eine Antwort zu warten. „Häschen. Mäuschen. Spätzchen. Aber: Pflaume, blöde Gurke, faule Tomate. – Hab ich nicht Recht?“

Nervende Zecke!“ hat er da leise gedacht und sich wieder zum Fernseher gedreht.

So war Kreta. Sie musste immer alles zerreden. Andere Menschen gehen Diskussionen eben lieber aus dem Weg. – Kreta hat Paul vor fünf Monaten verlassen.

Kürbiskopf!“ Paul beschimpft sich jetzt selbst. Er muss dringend damit aufhören, an Kreta zu denken. Schon gar nicht an damals, als sie beim Heimkommen einfach nur „Männer!“ geflucht hat.

Auf sein still ergänztes, „Alles faule Stangenbohnen!“, hat sie nach ein paar unverständlich gemurmelten Worten laut in seine Richtung gefragt:„Weißt du, wo das Problem liegt? Es ist die Perspektive. – Beispiel?“

Da hat es nichts geholfen, den nicht Angesprochenen zu mimen, Kreta hat ihm den Fluchtweg routiniert abgeschnitten. „Komm her zu mir.“ Gezwungenermaßen ist er ihr zu den Stufen zwischen Wohn- und Schlafbereich gefolgt. Sie hat sich auf die mittlere gestellt. „Komm ganz her. Und dann schau mich an.“

Und nachdem Paul ihren Kommandos gefolgt war: „Na? Verstehst du es jetzt?“

Er hat verständnislos genickt.

Verstehst du, wie man sich fühlt, wenn man immer zum Anderen aufschauen muss?“

Diesmal hat sich Paul wirklich Mühe gegeben, ihren Gedanken zu folgen. Er hat sich konzentriert, ohne zu blinzeln auf die drei Buchstaben gestarrt, die das verlockend prall gefüllte Oberdrittel ihres Pullovers geziert haben und tief in sich hinein gefühlt.

Und? Wie ist das jetzt?“

Geil!“ – das hat er dann leider laut gesagt.

Dass Kretas Neuer einen halben Kopf kleiner ist als Paul, ist wahrscheinlich trotzdem nur Zufall. In ihren Erzählungen ist er sowieso ein Riese. Andy hier, Andy da, Andy super blablabla.

Andy wo der Pfeffer wächst!“, das wäre sofort Pauls Lieblingsepisode in dieser schmalzigen Telenovela geworden, aber darauf kann er wohl lange warten. Dafür hat dieser Andy zu viel von dem, was ihm angeblich fehlen soll. Geld, Karriere, Esprit, kurz „Feuer im Hintern“, wie es sein Vater nur zu gerne ausdrücken würde. – „Mein Sohn, dir fehlt das richtige Feuer im Hintern!“

Die einzigen, die nach Pauls Dafürhalten tatsächlich Feuer im Hintern haben sind Paviane. Und wie es ihnen ihr Gesäß dankt ist ja hinlänglich bekannt. – Das wäre etwas, das er gerne einmal mit Kreta ausdiskutiert hätte. Er auf einer Leiter sitzend, während sie tief unter ihm dabei war seine Wäsche zu bügeln.

Es wäre nämlich falsch, Paul den Willen zu diskutieren gänzlich abzusprechen und keinesfalls darf man aus seinen Fluchtreflexen den Schluss ziehen, er sei oberflächlich oder gar dumm. Paul braucht einfach die Zeit, um in Ruhe nachdenken zu können, dann hätte er in jenem unseligen Pulloverdialog auch eine weit verständnisvollere Position einnehmen können. Nur Zeit hat ihm Kreta leider nie gegeben und eine lange Reihe von peinlichen Argumentationsniederlagen hat ihn schließlich auch die letzte Lust am Diskutieren verlieren lassen.

Paul beendet diese Gedanken mit einem Schulterzucken. Die griechischen Inseln können ihm in ihrer Gesamtheit gestohlen bleiben. Irgendwer wird dort schon Pfeffer angepflanzt haben. „Pfefferinsel!“ – Das war jetzt leider nicht mehr spontan genug.

Dann halt „Verdammtes Wochenende!“ – auch nicht gerade neu, aber diesmal läuft der Gedanke weiter: … denn was kommt nach dem Wochenende? – Der Montag! Richtig! Und mit ihm die neue Staffel! Mit einem Schlag ist Paul wieder bereit. Am Montag hat das lange Warten ein Ende, da wird er sich doch von so einem dahergelaufenen Samstag nicht die Laune verderben lassen. Los jetzt, ein zweiter Anlauf! Mit offenen Augen!

Vorbei an einer Schnellimbissvitrine kommt er zur Auslage eines Spielwarengeschäfts. Hier hat der Vorweihnachtsnahkampf schon lange begonnen. Zum Glück ist die Liste seiner persönlichen Geschenksempfänger mehr als übersichtlich. Ein einfühlungsvermögenbestätigendes, beziehungserhaltendes Geschenk braucht er ja nicht mehr. Und seine Freunde kann er leicht in zwei Kategorien einteilen: Die wenigen Guten, die es ihm schon länger verzeihen, kaum beschenkt zu werden und die weniger guten, die sich eh nichts erwarten dürfen. Blieben seine Schwester Eva, die mit ihren 17 Jahren derart verwöhnt ist, dass es sowieso keinen Sinn macht zu versuchen, sie zufrieden zu stellen und Herr Paulsen, für den tun es seit Jahren zwei bis drei teuer wirkende Zigarren.

Im Schaufenster winkt eine Weihnachtsmannpuppe und Paul lächelt beim Gedanken an den Heiligen Abend, an dem sein Vater neben einem Bildband über die Obersteiermark auch seinen Spitznamen bekommen sollte. Es muss vor zehn Jahren gewesen sein, Eva hatte gerade lesen gelernt und war an Weihnachten noch richtig aufgeregt. Mit dem ersten Glockenzeichen ist sie dann auch ins Wohnzimmer gestürmt, um sich wie ein Raubtier auf die Pakete unter dem Baum zu stürzen. Paul und sein Vater hatten sich klugerweise entschieden, nicht zwischen sie und ihre Beute zu gehen, sondern geduldig darauf zu warten, dass einzelne Pakete achtlos zur Seite geschoben wurden: „Eva! – Paul. – Papa. – Eva! – Paulie. – Eva! – Eva! – Hm? Wer bitte ist Herr Paulsen?“

Fragend hat sie ein Geschenk des Großvaters in die Höhe gehalten, der zur besseren Unterscheidung der Namensgleichen auf seinen Briefen den Enkel stets als „Paulie“ und den Schwiegersohn als „Herr Paul sen.“ betitelt hat.

Bitte Herr Paulsen, ich glaube, das ist für Sie.“, hat Paul damals lächelnd zum Vater gemeint.

Herr Paulsen! Herr Paulsen! Herr Paulsen!“ hat Eva gesungen und dabei mit Geschenkspapierfetzen um sich geworfen. Und „Herr Paulsen!“ sagt sie noch heute, mit einem unnachahmlichen Augenaufschlag, wenn das Taschengeld wieder einmal zu Ende ist.

Längst ist Paul in der Fußgängerzone angekommen. Es sagt viel über seinen bisherigen Tag, dass Gedanken an seine Schwester zu dessen Highlights gehören. Dabei wollte er sich doch eigentlich an den trüben Gesichtern der Anderen erfreuen.

Er tritt durch einen Torbogen und steht am Hauptplatz. Nach rechts oder links? Zu viele Möglichkeiten! Andererseits, wo findet man trübe Gesichter, wenn nicht in der Straßenbahn? Und in einem der Wartehäuschen wäre die Bank noch frei. Schnell überquert er den Vorplatz und setzt sich. Hinter ihm schlägt die Rathausuhr: Dreiviertel Neun.

Schon kommt die erste Garnitur angerattert. Zwei Mädchen steigen aus. Eva vor drei – vier Jahren, und zwar alle beide, die unterscheiden sich heutzutage ja kaum noch. Sie kichern. Wahrscheinlich überlegen sie gerade, wie sie ihren Brüdern das Leben zur Hölle machen können. Am liebsten würde er …

Ja! Und wenn das nicht der Paul ist, odrr?“

Pauls Kopf fährt herum, dann schlafen seine Gesichtszüge ein. Der Ully!

Der Ully hat Kreta vor Jahren in der Schweiz kennen gelernt und extra für ihre Geburtstagsfeier die lange Nachtzugfahrt in Kauf genommen. Der Ully ist immer gut gelaunt. Der Ully steht plötzlich vor Paul und klopft ihm lächelnd auf die Schulter. Der Ully erzählt von seinen schnarchenden Bahnkollegen und freut sich aufrichtig, den Paul getroffen zu haben. Und als sich der Ully schließlich verabschieden will, sagt er mit einem froschmaulbreiten Lächeln: „Aber, wir sehen uns dann ja ohnehin heute Abend, odrr?“

Ullys Hand kann Paul gerade noch schütteln, nur um dann wortlos zurück zu bleiben. Gesichtslose Schatten ziehen zu beiden Seiten zeitlupenhaft schweigend an ihm vorbei. Die Straßenbahn fährt weiter, aber Pauls Gedanken übertönen ihr Rattern.

Kretas Party ist also heute. Nicht, dass er im Entferntesten daran interessiert wäre. Da hat er Besseres vor – tonnenweise. Und dass sie ihn nicht eingeladen hat? Nur zu verständlich – auch, dass er nicht einmal davon erfahren hat. Ihre gemeinsamen Freunde sind eben doch alle primär Kretas Freunde gewesen. Bis auf Bernd. Den hat sie gemocht. Ob er wohl…? – Nein, das würde er nicht. Und wenn, dann hätte er ihm längst davon erzählt.

Paul stellt den Jackenkragen hoch. Soll sie doch feiern mit wem sie will. Er hat genug eigene Freunde. – Bernd zum Beispiel.

Seine Gedanken stolpern weiter, fassen ins Leere, drehen sich um alte Klassenfotos. Aber schließlich muss man sich nicht regelmäßig treffen, um eng befreundet zu sein. Und besser wenige echte Freunde als einen Haufen falscher.

Recht hascht.“

Paul hat gar nicht bemerkt, dass er seine Augen geschlossen hat, doch als er sie wieder aufschlägt steht plötzlich Hermann vor ihm und daneben Amalia und sogar Greg ist gekommen. Hermann nickt väterlich, Amalia nimmt seine Hand und Greg klopft ihm lässig auf die Schulter. „Heads up, buddy!“

Baaa-diie”, krächzt ein grüner Papagei. Paul dreht sich um, innerhalb weniger Sekunden haben braungebrannte Obsthändler lachend ihre Stände aufgebaut, wo ihn eben noch Straßenbahn und Rathausuhr ausgeäfft hatten. Er lächelt zurück. Gregs Hand hat Amalias Hüfte gefunden, Paul folgt den beiden, die schmale Straße hinunter in Richtung Strand. Herman erzählt den neuesten Tratsch, warmer Wind bringt Luft vom Hinterland, längst stört seine Jacke. Er zieht sie aus, setzt sich, spürt feinen Sand zwischen den Zehen und ohne sich nach ihnen umdrehen zu müssen, weiß Paul, dass seine wahren Freunde immer für ihn da sein werden.

Eine Möwe schreit. Paul atmet ihr hinterher. Ruhig und tief. So könnte es bleiben, blau bis die Sonne wieder untergeht. – Wenn sie das heute überhaupt vor hat.

Eine kräuselnde Welle rollt langsam vor seine Füße, das warme Wasser umspielt die einzelnen Zehen. Es kitzelt, aber angenehm. Paul erzählt seinen Freunden von Kretas Geburtstag und vom grinsenden Ully. Er schließt zuerst nur ein Auge und lauscht entspannt in die Wellen. Sein Atem findet ihren Rhythmus von selbst. Noch drei tiefe Züge, dann beginnt er leise zu summen.

As mossas. As mossas de Porto Bello“ und „irgendwann bleib I dann durt“

Pfffff“ – „Pfffff“ – „Pffffff“

PFFFriede.

Pfffff“ – „Pfffff“ – „Pffffff“

Die Musik verläuft langsam im Sand. Nur noch der Wind. Es dauert einen Moment, bis Paul die Kälte bemerkt. Nicht an seinen Füßen – auf seinen Schultern! Die Wellen sind auch eingeschlafen. Irgendetwas ist passiert. Aber egal! Was es auch sein mag, so lange er nur seine Augen weiter geschlossen hält, betrifft es ihn nicht.

Pfffffr“ – „Pfffffrr“ – „Pffffffrrr“

Das Bohren in seinem Rücken wird stärker. Ignorieren! In keiner Mythologie der Weltgeschichte hat es noch je einem Helden Glück gebracht, sich umzudrehen und zurück zu schauen. Ihn fröstelt. Egal! Deine Augenlider sind schwer! – Da schlägt ihm der kalte Wind wie eine Ohrfeige in sein Gesicht! Erschrocken reißt Paul die Hände nach oben, aber es ist zu spät.

Trostloser, wie sie es nicht sein kann, starrt die graue Fassade des Hauses zurück, in dem er jetzt wohnt. Hermann, Amalia und Greg sind verschwunden und das, worin er gerade mit seiner Fußspitze Kreise zeichnet ist verhundekoteter Kies und beileibe kein Brasilianischer Strandsand.

Langsam wandert Pauls Blick zu seinen Knien. Er sitzt auf seiner Bank, in seinem Park. Schon wieder? – Noch immer? – Verwirrt streckt er erst beide Beine aus und schlägt dann das rechte vorsichtig über das linke. Hat es seinen Spaziergang wirklich gegeben oder ist er gar nicht erst aufgestanden? Er befühlt seine Gesäßmuskulatur. Viel zu entspannt für so langes Sitzen und außerdem kann er Ullys Finger noch ganz deutlich auf seinem Schulterblatt spüren.

Paul hebt den Kopf, sucht mit den Augen nach seiner Wohnung. Der Vorhang vom Küchenfenster ist nur halb zugezogen. Was würde er sich wohl denken, könnte er sich jetzt selbst hier sitzen sehen? Einen 26-jährigen Mann, an einem kalten Samstagvormittag, die Jacke ausgezogen, nach vorne gebeugt, der mit der Fußspitze Kreise in den Kies zeichnet und sich dabei mit den Helden aus seiner Lieblingsfernsehserie unterhält?

Er schüttelt den Kopf. Von fern schlägt eine Kirchturmuhr. Am liebsten würde er über sich selbst lachen. Stattdessen beginnt er zu zählen. Bis Zehn. Dann steht er auf. Die Kamera bleibt aus. Er hat nichts mehr zu sagen.

(2)

Die meisten Möbel haben Pauls Wohnung mit Kreta verlassen. Egal, die Möbel seines Lebens haben seit jeher an ihrem Platz gestanden, weil sie jemand anderes ausgesucht, gekauft und dort aufgestellt hat. Wenn er sein sauer verdientes Geld für etwas derart Langweiliges ausgeben sollte, dann müsste das schon einen triftigen Grund haben.

Und so sieht sein Wohnzimmer heute auch aus: Die abgenutzte blaue Couch seines Freundes Bernd, ein brauner, stabiler Tisch vom Flohmarkt, davor zwei unterschiedliche Stühle, am selben Tag erstanden. Ein helles Regal für Fernseher und Stereoanlage, flankiert von getrockneten Blumensträußen in zwei braunen Bodenvasen. Das typische Bild eines Provisoriums, das unbemerkt zur Dauerlösung geworden ist. Verstärkt noch von jenem Gegenstand, der als einziger so gar nicht in das Bild einer finanzschwachen Junggesellenwohnung passen will: Ein glänzender, hochmoderner Lederdrehsessel. Als vielzitierte Ausnahme, die es zu jeder Regel geben soll, noch am selben Tag gekauft, an dem er das väterliche Haus in Richtung Kreta verlassen hat. Größer, bequemer und vor allem leiser, als es der alte Drehsessel im Arbeitszimmer seines Vaters je gewesen ist und doch für diesen noch immer kein echter Ersatz.

Paul wirft seine Jacke auf den Boden und setzt sich. Die schwarze Polsterung gibt sanft nach, eine beruhigende Umarmung. Herrn Paulsens Sessel hatte zwei dicke, braune Lederpolster gehabt, die aus ihren Klettverbindungen gelöst, unter ein Kindergesäß geklemmt und über die Armlehnen gehängt, für ihn die Tragflächen eines Jagdfliegers aus dem ersten Weltkrieg, über dem Kopf zusammengestellt, das Zelt eines Hochsee-Rettungsfloßes oder später einfach nur Schlagstöcke für nervende Kleineschwesternköpfe gewesen sind. Ganze Nachmittage hat er im geliebten Sessel verbracht, sobald seine Füße bis zum Boden reichten damit begonnen sich immer schneller zu drehen. Bald schon mit sportlichem Ehrgeiz: 48 Umdrehungen in der Minute, 2:12 für Einhundert. Gleichgewichtsstörungen inklusive.

So ist er als Geheimagent das rotierende Gestänge eines Bohrturms nach unten geklettert, als letzter Mann in den Olympiabob gesprungen, hat Astronautentrainings für mindestens 18 Mondmissionen bestanden oder sich einfach nur träumend im Kreis gedreht.

Als Kind hat ihm sein Vater das alles lächelnd nachgesehen, eben einen anderen Stuhl an seinen Schreibtisch geschoben. Kurz zu murren begonnen, als das Drehgelenk die ersten schleifenden Geräusche vernehmen ließ, aber Paul hat sich nicht mehr vertreiben lassen. Auch als er älter wurde und Flugzeuge, Astronauten und Geheimagenten mehr und mehr der Musik weichen mussten.

Paul hatte sich verliebt. In langsame, balladenhafte Songs, in alles, was ihm genug Platz zum träumen gelassen hat. Er hat sie gehört, wann immer er konnte und so haben alle gedacht, es sei ein perfektes Geschenk, ihm zu seinem zwölften Geburtstag einen Walkman zu kaufen. Paul hat sich auch riesig gefreut und den tragbaren Kassettenspieler überallhin mitgenommen – aber nur für ein paar Wochen. Dann ist er immer öfter auf seinem Nachttisch liegen geblieben, um schließlich ganz in einer Schublade zu verschwinden.

Was ist mit deinem Walkman?“, hat ihn Herr Paulsen einmal gefragt. „Ist er kaputt?“

Nein, nein.“, hat Paul geantwortet. Er hat es ihm damals nicht erklären können, aber so will er die Musik heute noch immer nicht. Er will keine Kopfhörer. Musik muss laut durch sein Zimmer hallen und vor allem er dabei im Drehsessel sitzen. Sich drehen und in bunte Gedankenwelten abgleiten können. Weitab kindlicher Rekordgelüste mit geschlossenen Augen sich langsam im Kreis drehen und Sänger sein, oder Gitarrenvirtuose – oder beides zusammen.

Längst hatte sein Vater ein eigenes Ingenieurbüro gegründet, war aus seinem alten Arbeitszimmer Pauls Jugendzimmer geworden und es hat sich immer öfter ergeben, dass Paul aus einem bis auf den letzten Platz mit enthusiastischem Publikum gefüllten Konzertsaal zurück gekommen ist, die Augen aufgeschlagen hat, um Herrn Paulsen in der Tür stehen zu sehen, den Kopf schüttelnd und irgendetwas murmeln wie: „Bist du dafür nicht schon etwas zu alt?“

Das war so typisch für seinen Vater, diese halblauten Vorwürfe, immer auf die Frage wartend: „Wie hast du das gemeint?“, aber nie etwas direkt ansprechen. So sehr Paul das heute noch hasst, so angenehm konnte es sein, wenn man versuchte, einem Streit aus dem Weg zu gehen: Ein kurzes Nicken, den Blick in die andere Richtung gedreht und warten, bis die Tür hinter einem wieder geschlossen wurde.

In seinem Sessel, da hat es die Welt um ihn herum nicht gegeben. Paul hat die Musik nicht einfach nur gehört, er hat die Geschichten zwischen ihren Zeilen gelebt. Mit übermenschlicher Beharrlichkeit ist er seinen eigenen Weg gegangen. Er hat gekämpft wie das Auge des Tigers, sich als nächster Ziegel in die Mauer geschoben und Dank eines hartnäckigen Hörfehlers hat ihn Prince jahrelang voll Inbrunst nach Schildkrötenhirn rufen lassen.

Und dann brach das Drehgelenk. – Nichts mehr zu reparieren. Paul war damals 16 Jahre alt und wusste, dass es keinen Ersatz geben würde. Seine Schulnoten bewegten sich hart an der unteren Toleranzgrenze, aber das war nicht das Problem.

Du bist ein Träumer.“, hieß es immer öfter, oder: „Gehst schon wieder Karussell spielen?“ Paul erwartete von seinem Vater kein Verständnis, er wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden. Den Zimmerschlüssel zweimal herumgedreht und dann die Musik so laut, dass keine Schleifgeräusche mehr nach draußen dringen konnten. So hatten der alte und der junge Paul Richter lange Jahre das getan, was sie am besten konnten: Sich im Stillen über die vorhersehbaren Argumente des anderen geärgert, ohne deswegen je miteinander reden zu müssen. – Und dann brach das Drehgelenk.

Paul versuchte zunächst, beim Musikhören im Bett zu liegen – in allen Verrenkungen. Das gelang ihm maximal für ein Lied, dann wurde der Drang sich zu bewegen viel zu stark. Also stand er auf und drehte sich im Kreis, legte sich wieder aufs Bett, begann abwechselnd mit einzelnen Zehen oder den ganzen Füßen zu wippen, den Kopf nach links und rechts zu drehen oder im Rhythmus zu nicken. Ohne Erfolg. Er versuchte es mit Tanzen – der Aufwand war ihm viel zu groß. Er brauchte einen freien Kopf, die Bewegung musste natürlich und unbewusst ablaufen können, so wie blinzeln oder atmen. – Verdammt! Es WAR wie atmen für ihn und das musste sein Vater jetzt einsehen!

Einen ganzen Nachmittag lang hatte er sich vorbereitet, trotzdem war die Diskussion beim Abendessen von kurzer Dauer. Drei Sätze in zunehmender Lautstärke hin und zurück, dann sprang Paul auf und warf seine Zimmertür voll Zorn hinter sich zu.

Kurz darauf stand sein Vater davor: „Schau Paul. Ich will doch nur dein Bestes. Und das mit dieser Dreherei, das ist doch nicht normal.“

Paul drehte die Musik voll auf.

Normal? Was war normal?! Musste er sich mit 16 schon für ein Studium entschieden haben, einen detaillierten Karriereplan vorweisen können? War das Normalität Marke Paul Richter Senior?

Lange sollte Paul in dieser Nacht auf seinem Bett liegen und immer wieder überlegen, welche Argumente er hätte vorbringen können. Er brauchte einen neuen Sessel und wenn er denn einen wollte, den man auch drehen konnte, wo war das Problem? Sein Vater spielte doch nur eine neue Variante des alten „Ich-will-nicht-dass-du-anders-bist“ – Spiels. Sollte er sich lieber mit Alkohol zudröhnen? War das gesellschaftlich akzeptierter als ein Sohn, der sich mit 16 noch gerne im Kreis drehte?

Das Thema wurde nie wieder angesprochen. Zwei Tage später schob Herr Paulsen kommentarlos den Plastik-Bürosessel „Lars“ vor Pauls Schreibtisch, dessen Drehfähigkeit zwar ausreichte, ihn davon abzuhalten gänzlich verrückt zu werden, der aber das gewohnte Gefühl nie auch nur annähernd zurückbringen konnte.

Paul steht auf und gibt seinem neuen Sessel auf dem Weg zur Stereoanlage einen leichten Stoß. Jetzt braucht er Musik. Er betrachtet den Stapel der zuletzt gehörten CDs, aber er sucht etwas anderes. Nichts zum Träumen, nur etwas Lautes, um den Klang von Ullys Stimme aus seinem Kopf zu vertreiben. „Du kommst doch heute Abend auch – odrr?“ Dieses halbverschluckt herausgerollte „r“ steckt tief in seinem Trommelfell und muss ganz dringend rrrrausgeschüttelt werden.

Du kommst doch heute Abend auch – odrr?“

Odrr wusstest du nichts von ihrer Party?“ Paul streicht mit dem Finger über die Rücken der CDs. „Odrr hat sie dich gar nicht erst eingeladen?“ Jetzt bloß kein Herz-Schmerz Gedudel. „Odrr hat das nicht funktioniert mit dem: Wir wollen weiter Freunde bleiben?“

Jetzt muss es schnell gehen! Paul schaltet auf „Radio“ und dreht voll auf. Lauter Gitarrenrock! Für einen Zufallstreffer gar nicht mal schlecht. Schon hat er die Luftgitarre zur Hand. „Odrr, odrr, odrr was? Hier steht Paul und spielt den Bass!“

Lauter! „Odrr wer, odrr wie, diese Gurke liebt ich nie!“ Noch lauter! Das ganze Regal vibriert. „Gurke odrr, Zwiebel odrr, halb verfaulte Fleischtomate! Odrr odrr odrr was?“ Paul springt in einen furiosen Schlussakkord. Er atmet schwer, ein einzelner Schweißtropfen rinnt langsam über seinen Rücken. Der Moderator schreit ihn an: „Na bitte. Das war doch die richtige Antwort auf den Lazy Weekend Morning Schlendrian, oder?“

Noch nie hat Paul ein einzelnes „e“ so gut getan. Er lässt die Luftgitarre zu Boden gleiten und dreht die Lautstärke zurück. Auf Kretas Party kann er getrost verzichten. Er hat ja seinen Sessel.

Wieder liegt seine Hand suchend auf den CDs. Oh, wenn doch nur alles so einfach wäre, wie es ihn das fordernde Gefühl in seinem Bauch gerade glauben machen will. Dieses Gefühl, das ihm sagt, dass es für jede Situation im Leben das perfekte Lied gibt. Dass es ein Lied geben muss, das wie ein Puzzlestück in die Leere passt, die Kreta in ihm hinterlassen hat. Es zieht ihn zu seinem Sessel, er hat dieses Lied parat, es liegt ihm auf der Zunge, auf seinen Ohren oder über der Hirnregion, die für musikalische Vorstellungskraft verantwortlich sein mag. Wenn er es hört, dann wird es ihm Kraft geben, seine Batterien neu aufladen. Doch wie lange er auch danach suchen mag, er weiß ganz genau, dass er es nicht finden kann. Genau so wenig wie den Puzzleteil, der ihm damals auf den Boden gefallen ist und von seiner Schwester verschluckt wurde.

In Momenten wie diesem verflucht Paul Thomas Alva Edison und alle, die es ermöglicht haben, Musik aufzuzeichnen. Wie viele Lieder hat es gegeben, die er einmal abgöttisch geliebt hat, alles stehen gelassen hat und sofort zu seinem Sessel gerannt ist, wenn sie einmal zufällig im Radio gekommen sind. Lieder, die seinen ganzen Körper bewegt haben. Unmöglich, sie in Gesellschaft zu hören. Drei Minuten reinstes Glücksgefühl.

Und dann hat er doch einmal schnell den Kassettenrekorder eingeschaltet, um wenigstens die Hälfte auf Band zu haben. Der Anfang vom Ende! So schlecht hat die Aufnahme gar nicht sein können, dass er sie dann nicht rauf und runter gespielt hätte. Den Zauber mit jeder Wiederholung ein klein wenig zerstörend. Dabei hat man Kassetten wenigstens noch zurück spulen müssen. Heute legt man eine neue CD einfach ein und spielt die besten Lieder ohne Pause bis es weh tut.

Manche Dinge sollte man eben nie besitzen. Es hat ja auch eine Zeit gegeben, da hat er Kretas eleganten Schritten sehnsüchtig bewundernd aus seiner Portiersloge nachgesehen – odrr?

Paul lässt sich kraftlos in den Sessel fallen. Keine Musik! Er hat einfach nicht die Ruhe. Wo ist die Fernbedienung?

(3)

Das Samstagvormittag Zielpublikum der meisten Fernsehsender ist fünf Jahre alt und Wintersportfan. Aber Paul ist zufrieden. Bunte Bilder und Information in leicht verdaulichen Häppchen. Zappen ist für ihn wie Schwammerlsuchen, da findet man ja meistens auch nichts und hat nachher trotzdem nie das Gefühl, seine Zeit nutzlos vergeudet zu haben.

Und so informiert er sich abwechselnd über den Lachsfang in Alaska, die harten Wintermonate in Mongolischen Bergregionen und die einfachsten Tanzschritte, um neuen Schwung in das eingerostete 50+ Eheleben zu bringen. Er verfolgt drei verschiedene Paare in ebenso vielen romantischen Kinokomödien auf ihrem Weg zum unausweichlichen Leinwandhappyend. Er lässt sich eingehend über die Vorteile teflonbeschichteter Bratpfannen, Akku-betriebener Schraubendreher und privater Krankenversicherungen belehren und stolpert schließlich unangemeldet durch das Familienleben von insgesamt fünf Sitcom-Familien mit je mindestens zwei grundgegensätzlichen Kindern im pubertierenden Highschoolalter.

Dabei wäre alles so leicht gewesen: „Hallo Ully, du alter Oberjodler… Was führt dich in unsere Gegend?… Kreta? Geburtstag? Ach ja, die hat mich letzte Woche zweimal angerufen. Komisch, dass ich es trotzdem vergessen habe. Aber das mit ihr, weißt du, das ist schon so lange her. Und außerdem hab ich längst etwas anderes vor… Was?…“

Paul schaltet weiter: Bratpfanne – Sitcom Nummer drei – Handywerbung. – „Was ich vorhabe, fragst du? … Viel. …“ – Sitcom Nummer vier – Handywerbung – Eisschnelllauf. „Aber reden wir doch von dir. Brennt der alte Pizzaofen noch?“ – Boy meets girl – Sitcom Nummer fünf – Musikvideo. „Ich weiß, das klingt jetzt irgendwie hart, aber das Leben geht weiter und heute ist Samstag, du verstehst.“ Ja, das war gut! – Zurück zum Video – Paul verfolgt das rhythmische Zucken von Sängern und Backgroundtänzerinnen. „Heute ist Samstagnacht. Du verstehst.“ Dazu ein Augenzwinkern. Und dann hätte er den Ully mit einem lässigen Hüftschwung stehen lassen. Höchstens noch ein schnelles: „Wenn du morgen wieder nüchtern bist, dann können wir ja auf einen Kaffee gehen. Odrr?“

Paul lacht, er dreht sich im Sessel und schließt seine Augen. Saturday Night Fever, die Schritte hat er drauf wie kein Zweiter. Er teilt die Tanzfläche wie Moses einst das Rote Meer. Auf der Galerie stößt Ully Kreta in die Seite und deutet nach unten, wo sich schon erste Mädchen um Paul scharen. „Bam bam bam bam, staying alive!“ Den Arm zur Seite und in die Pirouette. „Uh, uh, uh, uh, staying ali-ive!“ Längst sind über ihm alle Gespräche verstummt. Tja meine Liebe, das war eindeutig die falsche Disco zum falschest möglichen Zeitpunkt. Zum FMZ. Kretas Super-FMZ! „Bam! Bam! Bam! Staying aliiiive!!!“

Handywerbung! Paul bremst den Sessel und schaltet um.

(4)

Inzwischen weiß Paul, warum ihn Wochenenden neuerdings so nervös machen. Sie bringen seinen Alltag aus dem Takt. Heute nicht anders. Nach einer Stunde ziellosen TV-Konsums stellt sich das nächste Ziehen ein. Er wird unruhig, sein Magen flau, aber es ist kein Hunger, auch wenn es ihn geradewegs an den Esstisch zieht.

Paul steigert seine Zapping-Rate, aber das Ziehen hat sich längst in den Vordergrund gedrängt, wird allmählich zum Zwang. Sein Kopf, sein Magen, seine Beine, alle senden ihm denselben Befehl. Ein viel zu intensives Gefühl, wenn er bedenkt, wodurch es letztlich hervorgerufen wird.

Trotzdem steht er auf, sich zu wehren wäre jetzt sinnlos, das haben ihn die Jahre gelehrt. Genug der Passivität, sein Körper verlangt dringend danach, etwas Aktives zu tun – mit seinen Händen etwas zu erledigen, auf das er heute Abend mit Stolz zurückblicken kann.

Und so lässt er sich an seinen Esstisch ziehen, wo ihn ein angefangenes Puzzle erwartet. Downtown New York bei Nacht: Dunkle Wolkenkratzer, in den Straßenschluchten leuchtende Fäden, gezogen von Autoscheinwerfern auf Grund der langen Belichtungszeit. Große Löcher, in denen noch das Braun des Tisches zu sehen ist, hin und wieder ein greller Pulk beleuchteter Fenster und ganz zentral ein weißer Fleck. Hier hat einmal das World Trade Center gestanden, die entsprechenden Teile hat Paul mit Deckweiß übermalt.

Er beugt sich über den Tisch, sein Magen entspannt sich. An einem typischen Abend hat er mit Kreta im Wohnzimmer gesessen, sie in einer Zeitschrift lesend, er ein Puzzlebrett auf seinem Schoß, die Vorsortierschachteln am Boden, der Fernseher als reine Geräuschberieselung zwischen den beiden und er konnte es fast immer auf die benötigte Konzentration schieben, wenn er ihre Fragen kaum hörte und erst recht keine zufriedenstellende Antwort darauf geben konnte.

Letztes Jahr hat ihm Kreta dann einen Rahmen und Fixierflüssigkeit geschenkt, bis dahin wäre er nie auf die Idee gekommen, ein fertiges Puzzle aufzuhängen. Wenn er ein kitschiges Poster wollte, dann konnte er es billiger bekommen. Ihn fasziniert der Akt des Zusammenbauens, ein kleines Stück Welt mit seinen tausend Geschichten ganz langsam entstehen zu sehen – ja, es selber entstehen zu lassen.

Kreta hat es natürlich nicht erwarten können, dass ihr Geschenk auch benutzt wurde und so hat er New York damals bewusst ausgewählt, eben wegen dem weißen Fleck. Das war nicht einfach nur ein Puzzle, das war ein Stück Kunst, in das er sich selbst eingebracht hatte, auf das er sogar ein klein wenig stolz war.

Bitte nimm das weg. Das macht mich traurig.“

Mein Gott, was könnte Paul inzwischen alles an Argumenten vorbringen für die Kunst, die eben nicht angenehm sein darf, wenn sie ihren Betrachter zum Nachdenken anregen will. Dass man der schrecklichen Realität direkt ins Auge blicken muss – obwohl, da hätte ihn Kreta wahrscheinlich nur ausgelacht. „Und das sagst ausgerechnet du?“

Darauf wüsste er heute noch keine Antwort, damals hat er ohnehin gar nichts gesagt. Ist nur enttäuscht stehen geblieben und hat das Kurzzeitkunstwerk von der Wand geholt. Der Rahmen hat sich problemlos wiederverwenden lassen und die Flüssigkeit noch für 1000 Teile Rio mit dem Zuckerhut gereicht.

Paul setzt sich. Dieses Puzzle hat er vor drei Tagen unter den Sonderartikeln seines Lebensmitteldiscounters gefunden. 5.99 für ein Tausender, da hat er einfach zuschlagen müssen, zumal sein altes New York durchs Fixieren unbrauchbar geworden war.

Wie immer hat er mit dem Rand begonnen, dann alle Teile nach Regionen in die verschiedenen Schachteln sortiert: Häuser, Straßen, Himmel und Wasser. Zuerst das World Trade Center gebaut und mit einem trotzigen Lächeln zum Deckweiß gegriffen. Danach die hellen Stellen, die sind noch einfach gewesen. Jetzt beginnt die Tüftelarbeit: Dunkle Fassaden, Himmel und Wasser. Dafür soll das fertige Puzzle im Dunklen leuchten.

Paul nimmt ein von roten Bremslichtern durchzogenes Stück Straße und streicht sich damit über die Lippen, während er alle roten Stellen auf der Vorlage absucht. Früher hat man die Ziffernblätter von Uhren mit radiumhaltiger Farbe zum Leuchten gebracht. Die wurde von Frauen mit einem dünnen Pinsel aufgetragen, dessen Borsten sie immer wieder mit den Lippen ganz spitz zusammendrehen mussten, was viele von ihnen später mit Blutkrebs bezahlen sollten. Fernsehzappingwissen! Paul lässt seine Hand sinken. Solche Farben werden heute nicht mehr verwendet. Obwohl? Für 5.99 lässt man diese Puzzles sicher irgendwo in Asien unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen herstellen. Wer sonst produziert heute noch ein Foto mit dem World Trade Center?

Die Bremsspur ist schnell eingepasst und die dazu passende Ampel auch gleich zur Hand. Mit jedem Puzzleteil wird ein Stück des braunen Lavasees unschädlich gemacht. Paul schaut auf die Uhr, für wann haben die Vulkanologen die nächste Eruption vorhergesagt? Kurz spürt er den Druck der Verantwortung, muss beim Anblick der Wolkenkratzer dann aber an den bunten Schleim der Ghostbusters denken und sieht sich Sekunden später von der Erinnerung an seinen Vater gänzlich aus der Konzentration gerissen.

Wie sagt der immer so schön? „Ich hab noch nie gehört, dass jemand mit Kinderspielen Geld verdient hat.“ Von wegen! Erstens hat Paul unlängst in einer Schachtel einen in acht Sprachen abgefassten Zettel gefunden: „Laut der EU Norm Nummer Soundso werden Puzzles mit mehr als 500 Teilen nicht als Spielzeug angesehen.“ Ha! Und was wäre, wenn das vor ihm eine Aufnahme aus einem Überwachungshubschrauber ist, auf der man einen Mord erkennen kann? Mit diesen Spezialcomputern, die es nur im Fernsehen gibt, die unrealistisch tief und detailliert in jedes noch so verschwommene Bild hinein zoomen können?

Was, wenn es der Mafia gelungen ist, die Aufnahme zu stehlen und durch einen Shredder zu jagen? Dann liegt es jetzt ganz alleine an ihm, an Paul Judge, dem Puzzleexperten des FBI, diese Verbrecher ihrer gerechten Strafe zukommen zu lassen. Und zwar noch vor drei Uhr, ehe das Flugzeug nach Sizilien von LaGuardia abheben kann.

Damit hat Paul den passenden Rhythmus gefunden. Seine Hände arbeiten konzentriert, Menschenleben hängen von ihrer Präzision ab.

(5)

Kurz nach dreiviertel Drei sind die Mörder dingfest gemacht. Dabei hatte es lange so ausgesehen, als könnte sie der eintönige Nachthimmel retten. Jetzt wird niemand mehr Waisenkinder dazu zwingen, Puzzleteile mit Kokainhältiger Farbe zu bemalen. Paul bekommt einen Handschlag vom Polizeipräsidenten und denkt beim Ausbessern der Deckweißfläche an die vielen Kollegen, die dort begraben liegen. Nicht zum ersten Mal überlegt er, ob er kleine Kreuze hinein malen soll. Aber das wäre zu kitschig. Nein, wenn es Kreta auch niemals verstehen wird, genau so ist es richtig.

Zufrieden steht er auf und geht ins Bad, wäscht sich die weiße Farbe von den Fingern und betrachtet seine Bartstoppeln im Spiegel. Seit einer guten Woche hat er sich jetzt schon nicht mehr rasiert, trotzdem reicht es noch nicht einmal ansatzweise für einen Drei-Tage-Bart. Als Teenager haben ihn seine trägen Haarwurzeln noch geärgert, heute ist er froh über den gesparten Rasierschaum. „Baby Popo“, hat ihn Kreta in guten Tagen genannt. Am Ende dann nur noch „kindischer Arsch!“

Paul wiederholt diese Worte in Gedanken und schneidet Grimassen in den Spiegel. Niemand da, der an seinem Aussehen Anstoß nehmen könnte. Andererseits steht heute Amalias Einweihungsfest auf dem Programm.

Während er den Schaum im Gesicht verteilt, summt Paul die ersten Takte des Donauwalzers. „Porto Bel-lo, so bello, bel-lo!“

Vor zwei Wochen hat das Schweizer Fernsehen begonnen, samstags die erste Staffel seiner Lieblingsserie auszustrahlen und damit wenigstens einem der beiden Wochenendtage ein wenig Leben eingehaucht.

Mit jedem Rasurstrich kommt etwas zum Vorschein, das Herr Paulsen sicher gerne gesehen hätte. Das Gesicht eines jungen, erfolgreichen Mannes, vor dessen Urteil ganze Industriekonzerne zittern. Paul starrt in den Spiegel. Beinharte Augen. „Restrukturierung!“, sagt er, „2000 Jobs müssen sofort abgebaut werden, überweisen sie das Geld auf mein Liechtensteiner Konto.“

Noch fünf Minuten. Er geht zurück ins Wohnzimmer, setzt sich in seinen Sessel, beginnt sich zu drehen. Der Finanzhai wird melancholisch. Er sitzt im Flugzeug – First Class natürlich – auf dem Weg zu einem Klassentreffen. Was sind da auf einmal die kalten Zahlen auf seinen Konten gegen das kleine Glück der daheim Gebliebenen? Es ziehen Gesichter alter Freunde vorbei. Amalia, Greg, Hermann und wenn’s denn sein muss auch die kleine Linda.

Dabei hat Paul die Serie kaum beachtet, als die Porto Bello Girls im österreichischen Fernsehen zum ersten Mal zurück in ihre Heimatstadt gezogen sind. Hat sie für eine niveaulose Sandstrand – Telenovela gehalten und nur hin und wieder einen Fetzen davon aufgeschnappt. Dann war es die Schönheit der Amalia, die ihn beim Zappen zum kurzen Innehalten gebracht hat. Doch schöne Frauen gibt es im Fernsehen genug, dieser Serie jedoch sollte es gelingen, Paul die Fernbedienung aus der Hand zu nehmen.

Etliche Artikel in diversen Programmzeitschriften haben sich inzwischen mit dem Erfolgsgeheimnis der Porto Bello Girls beschäftigt. Dort spricht man neben der Schönheit von Darstellern und Landschaft von größerer Dichte, sympathischem Schwung, glaubhaft aufeinander abgestimmten Charakteren. Allein die Drehbücher sollen doppelt so dick sein wie bei vergleichbaren Serien. Alles Dinge, die Paul sofort unterschreiben würde, die aber auch nicht erklären können, was ihn binnen Tagen vom „nicht mehr weiter Zappen“ übers „ganze Folgen anschauen“ bis hin zum „keine Sekunde mehr versäumen können“ gebracht hat.

So viel Aufmerksamkeit hätte ich auch gerne einmal.“ Hat schließlich sogar Kreta gemeint, die es ansonsten tief unter ihrer Würde befand, eifersüchtig zu sein.

Blödsinn!“, hat Paul geantwortet und sich wieder auf einen Dialog zwischen Mutter und Tochter konzentriert, dessen Sätze im eleganten Tempo eines Strandfederballs zwischen den beiden hin und her flogen. Schlagfertigkeit in Reinkultur! Und war es vielleicht zu viel verlangt, sich eine Dreiviertelstunde lang in ein bisschen heile Welt zurückziehen zu können?

So gesehen hatten seine letzten beiden Samstage viel von einem „alte Super8 Filme mit den Großeltern“-Abend, als er wieder einmal miterleben durfte, wie Amalia, die als junges Mädchen schwanger geworden das elterliche Haus in Richtung Rio de Janeiro verlassen hat, mit ihrer Teenager Tochter Linda in das Hafenstädtchen Porto Bello zurückkehrt, nachdem ihre Eltern bei einem Brand in ihrem Restaurant ums Leben gekommen sind. – Bei der Szene am frischen Grab der Eltern, mit denen sie den Streit nie beigelegt hat, muss Paul jedes Mal umschalten.

Amalia beschließt zu bleiben und will das Restaurant wieder aufbauen, doch da macht ihr der skrupellose Geschäftsmann Senhor Concesao einen Strich durch die Rechnung. Ihre Eltern haben es nämlich verabsäumt, die Betriebslizenz an Amalia zu vererben und Concesao, der selbst das Monopol in Strandnähe erworben hat, verweigert ihr eine eigene. Zudem ist das Grundstück mit einer Hypothek belastet. Amalia ist verzweifelt und will aufgeben, auch Hermann, ein deutscher Auswanderer und alter Freund der Familie meint „Du ka’scht ja it am Wasser baue.“ Am Ende der zweiten Folge verkauft Amalia ihr Grundstück an einen siegessicher grinsenden Senhor Concesao.

Meine Damen und Herren. S‘ ischt jetzt 15 Uhr und damit wünschen wir ihnen viel Vergnügen mit der dritten Folge unserer neuen amerikanischen Erfolgsserie. Die Porto Bello Girls.”

Neu?“, Paul lacht, die Vorfreude kribbelt bis in seine Fingernägel. Noch steht Senhor Cencesao auf dem Balkon seines herrschaftlichen Anwesens und blickt zufrieden über den Strand, als ihn ungewöhnliche Aktivitäten beim Fischerhafen die Augenbrauen nach oben ziehen lassen. Schnitt auf Amalia, die neben den Booten steht und einige Arbeiter beaufsichtigt. Linda stößt sie in die Seite und deutet zum Balkon der Concesaoschen Villa. Amalia winkt zuckersüß, dann schwenkt die Kamera auf die Baustelle, wo offensichtlich ein Floß entstehen soll.

Es folgt der Vorspann, ein schneller Samba. Paul springt mit Amalia von Szene zu Szene. Mit einer Ananas auf dem Markt, mit Linda vor der Schule, mit Hermann neben einem Vogelkäfig, mit Greg Arm in Arm, Senhor Concesao schaut finster und drei Polizisten lachen. Paul lacht mit ihnen. Am Strand wird getanzt.

As mossas, as mossas de Porto Bello – oho. The Porto Bello Girls!!!“

Während die Musik verklingt, spürt Paul schon warmen Sand unter seinen Füßen. Greg joggt den Strand entlang, es ist sein erster Auftritt in der Serie. Paul läuft neben ihm, er spürt sein schlechtes Knie und hat Mühe mit dem durchtrainierten Sportler Schritt zu halten. Als sie sich den Fischerbooten nähern, bemerken sie Amalia und beschließen, dass der Zeitpunkt für ein paar Stretching Übungen gekommen ist.

Paul bleibt zurück. Hier würde er nur stören. Amalia betrachtet Greg, der stretchend Interesse an den Bauarbeiten vorgibt. „Ein neues Boot?“

Nein, eine … wie sagen Balanço?… Floh?“

Floß?“

Paul liebt Amalias Akzent, wenn sie mit Greg spricht. – Kreta war da natürlich anderer Ansicht: „Kannst du mir bitte erklären, warum sie auf einmal so komisch redet?“

Weil er kein Portugiesisch kann und sie eben nicht besonders gut Englisch.“

Aber sonst spricht sie doch ganz normal.“

Ja, da spricht sie auch Portugiesisch.“

Nicht Deutsch?“

Nur in der Synchronisation.“

Und im Original?“

Englisch.“

Ich dachte, das kann sie nicht.“

In Wirklichkeit schon.“

Wie jetzt?“

Ja, wie wohl? Die Schauspieler reden natürlich alle Englisch. Aber weil die Serie in Brasilien spielt, soll das die Landessprache sein, also Portugiesisch. Jetzt ist Greg aber Amerikaner und kann kein Portugiesisch, also sprechen mit ihm alle Englisch, so gut sie eben können.“

Und deshalb brabbeln sie dann so?“

Das soll halt schlechtes Englisch sein. Weil Greg im Original auch Englisch redet, aber für uns Deutsch, weil wir es sonst nicht verstehen würden.“

Was?“

Alles! Hör doch endlich zu: Wenn jemand ganz normal Deutsch redet, dann ist das Portugiesisch. Okay? Außer bei Greg, der redet immer Englisch. Daher sprechen mit ihm alle in gebrochenem Deutsch.“

Und das soll dann Portugiesisch sein?“

Nein, Englisch!!“

Aha. Und warum redet Hermann immer so komisch?“

Weil er ein Schwabe ist. Das heißt, im Original redet er Englisch mit einem deutschen Akzent, aber das kommt in der Übersetzung natürlich nicht raus.“

Was?“

Deutsch mit deutschem Akzent!!“

Und mit Greg?“

Da redet er Englisch.“

Klingt aber gleich.“

Weil er eben gleich gut Portugiesisch und Englisch spricht!“

Aber nicht Deutsch?“

Himmel!!…“

Da hat Kreta endlich laut zu lachen begonnen und Paul zärtlich die Hand auf die Schulter gelegt. „Komm. Beruhig dich wieder. Ich bin ja nur froh, dass es endlich mal ein Thema gibt, über das man mit dir richtig diskutieren kann.“

Zitrone! Paul gelingt es nur mühsam Kreta zu vertreiben. Inzwischen hat Amalia Greg erklärt, dass sie ein schwimmendes Restaurant bauen lässt. Sie drückt ihm einen Flyer in die Hand, er lächelt und läuft weiter. Paul begleitet Amalia zum Parkplatz, auf ihrem Auto hängt ein Schild „For Sale“.

Am Marktplatz treffen sie einen aufgebrachten Senhor Concesao. Amalia bleibt freundlich, lässt sich nicht provozieren. Paul summt leise Walzertakte. Als Concesao schließlich mürrisch davon stapft, kauft Amalia die aus dem Vorspann bekannte Ananas und führt Paul zur Präfektur, wo man ihr die offizielle Lizenz für ein Restaurantfloß ausstellt.

Paul lächelt. Nicht mehr lange und sie wird sich hier zusammen mit Greg um eine ganz andere Urkunde bemühen.

Während Paul beim Gedanken an die neue Staffel erwartungsvoll seufzt, besucht Amalia ihren väterlichen Freund. Wie schlank Hermann noch ist, der hat über die Jahre sicher 30 Kilo zugenommen. Paul geht hinter den beiden durch Hermanns Park. Amalia erklärt ihren Plan. Hermann lacht und zwei Tukane fliegen erschrocken davon.

In ein paar Wochen wird Greg dieses Anwesen als kleines Paradies im Paradies bezeichnen. Und damit wird er Recht haben. Hermann hat sich nach einem großen Lottogewinn scheiden lassen und ist mit der Hälfte seines Gewinns nach Brasilien ausgewandert. Hier hat er ein Grundstück an einem Fluss, ein paar Kilometer vom Strand entfernt gekauft. Den Fluss hat er zu einem kleinen See aufgestaut, auf dem Gänse und Enten schwimmen. Wie überhaupt Vögel die eigentlichen Herren auf seinem Land sind. Neben all den freilaufenden Pfauen und Fasanen gibt es ein gutes Dutzend großer Käfige und Volieren mit Sittichen, Tukanen und Papageien. Alles verbunden durch verwinkelte Wege, an denen allerlei deutschstämmiges Gewächs blüht, das Hermann eigens hat einfliegen lassen.

Paul setzt sich unter einen großen Fliederbusch. Jetzt konzentriert sich die Handlung ohnehin auf Linda.

Linda ist Amalias Tochter und zu Beginn der Serie zwölf Jahre alt. Heute ist sie laut einer Umfrage des People Magazins Amerikas Teenagerschwarm Nummer Eins. Das Interesse an ihren Reizen reicht jedoch weit über Zwanzigjährige hinaus, da muss Paul nur an seinen Freund Bernd denken. Dieser dumme Feldsalat! Dabei ist es Bernd gewesen, der damals mit einer Kopfbewegung in Richtung Kreta gesagt hat. „Du weißt ja, was man von Frauen und Vögeln sagt?“

Paul hat sich entsetzt nach Kreta umgesehen. Wenn sie das gehört hätte!

Eine Frau zu heiraten weil sie hübsch ist, ist genau so, als würde man einen Vogel essen, weil er so schön singt.“ – Hokkaidokürbis!

Aber noch ist Linda nur ein unglückliches Mädchen, das in seiner neuen Schule keine Freunde findet und wegen seines Rio-Akzents gehänselt wird. „Du! Du! Du!“

Während sie schluchzend durch das Schultor in die Arme ihrer Mutter läuft, wartet Paul bereits in Gregs Wohnung. Es folgt die schicksalhafte Szene in der Greg Simenowski, der berühmte Amerikanische Baseballprofi, der seinen ersten Winter in Porto Bello verbringt, mit einem Handtuch um die Hüften aus der Dusche steigt – ja, auch den Frauen wird etwas geboten – beim Papierkorb stehen bleibt und nach kurzem Zögern Amalias Flyer wieder herausnimmt, ihn auffaltet und auf den Fernseher legt. Am Ende der Staffel wird Greg das Strandhaus kaufen.

Amalia muss derweil ihren gesamten Charme einsetzen, damit ihr schwimmendes Restaurant termingerecht fertig wird. Paul ist fasziniert, wie sie es immer schafft, gerade genug zu kokettieren und dabei doch natürlich und glaubhaft zu bleiben. Es ist ihm egal, dass Senhor Concesao – oder „die alte Konze-Sau“, wie er ihn gerne nennt – dass dieser Menschenfeind erster Güte nicht einmal die kleinste Konkurrenz dulden will und mit einer „all-Night Happy Hour“ in seinen Lokalen zum Gegenangriff bläst. – Der wird sich noch wundern!

Aufbruchstimmung aller Orten! Es wird gehämmert und gesägt. Hermann bringt frische Blumen aus dem eigenen Garten. Amalia gelingt es, die ehemaligen Angestellten ihrer Eltern anzuwerben und Paul fühlt sich, als könne auch er alle Geschehnisse der letzten Jahre mit einem einzigen Zwinkern ungeschehen machen. Heute stört ihn nicht einmal Amalias seniler Onkel Zé, der eigentlich ihr Großonkel ist und ohne Rücksicht auf Sprache und Zusammenhang immer nur vom großen Taifun erzählen will, den er vor 50 Jahren als einziger des gesamten Dorfes überlebt hat. Amalia setzt ihn liebevoll unter einen Sonnenschirm. Die Fischer beginnen ihre Boote zu schmücken, mit denen man später die Gäste zum Floß bringen will.

Kurz vor dem Fest scheint alles aus dem Ruder zu laufen. „Wo ist der Sekt?“ – „Hat jemand die große Kühlbox gesehen?“ – „Ich glaube ich werde seekrank.“ – „Mein Gott, wir haben viel zu wenig Teller.“ Nur Paul bleibt ruhig, das macht die Routine.

Und mitten im größten Durcheinander ist dann auf einmal alles still. Amalia sitzt alleine am Floß. Sie spricht in die unsichtbare Kamera: „Natürlich habe ich versucht mir nichts anmerken zu lassen, Zuversicht auszustrahlen. Dabei habe ich mich die ganze Zeit selbst denken hören: Was machst du da eigentlich? Hast du deinen Verstand verloren, willst du wirklich so enden wie deine Eltern? Und dann? Na ja, dann habe ich mich einfach mitreißen lassen, von der Lawine, die ich selbst losgetreten hatte.“

Paul lächelt und nickt. „Du hast alles ganz richtig gemacht, Amy, mein Mädchen.“

Diese stillen Momente, die liebt er am meisten. Jeder der Hauptcharaktere hat das, was Paul seinen „Special Place“ nennt. Einen Ort der Ruhe, an den er sich im größten Chaos zurückziehen kann um ungestört über seine Gefühle zu reden. Amalia alleine am Floß, Greg auf seinem Bett sitzend, schräg von unten aus der Perspektive des Papierkorbs aufgenommen. Kurz kommt in Paul die Erinnerung an den heutigen Morgen hoch, an seinen peinlichen Auftritt im Park, aber die nachdenklich elegante Bewegung, mit der sich Amalia zum Ende ihrer Auszeit eine Haarsträhne aus der Stirn streicht, bringt ihn gerade rechtzeitig nach Porto Bello zurück.

Der große Abend ist gekommen:

Darf ich Mamae?“ Amalia nickt. Linda schießt eine Rakete in die Luft, unter ihrem Feuerhof muss der sieggewohnte Senhor Concesao von seinem Balkon aus mit ansehen, wie sich eine kleine Flottille bunt geschmückter Boote Porto Bellos neuester Attraktion nähert. Voll Zorn wirft er sein Fernglas zu Boden.

Auf dem Floß werden derweil die Gäste begrüßt. Der Bürgermeister, Hermann, zwei Damen vom Frisiersalon. Einige Gesichter hat Paul nie wieder gesehen, müssen wohl Touristen sein. Und dann, ein wenig zögernd, setzt ER seinen Fuß auf die Planken. In all dem Getümmel hat ihn Amalia doch sofort bemerkt. Die Baseballkappe auf dem Kopf nickt Greg ihr zu, man erkennt, dass er sein Kommen ein wenig bereut, doch sie läuft auf ihn zu und nimmt ganz natürlich seine Hände. „Ich bin froh, Sie sind gekommen. Bitte sehr. Getränke, Essen hier drüben.“ Ein Küsschen auf die Wange.

Das ist es, denkt sich Paul. Ihre Augen! Sie hat ihn von der ersten Sekunde an gemocht, lange bevor sie noch wusste, wie viel Geld er verdient.

Weniger gern sieht er den Jungen, der mit seinen Eltern gekommen ist und schüchtern zu Linda hinüber sieht. Bei den beiden wird es in zwei Jahren sehr schnell gehen. Für Lindas Mutter und den Mann ihrer Bestimmung jedoch, beginnt mit den ersten Klängen der Band ein langer Weg mit vielen Aufs und Abs, als Amalia, weil sie noch immer seine Hände hält, kurzentschlossen mit Greg zu tanzen beginnt. Greg ist verdutzt, da aber alle anderen zurückweichen, um eine Tanzfläche für sie frei zu machen, kann er nicht anders.

Paul sitzt inzwischen in einem Boot, das langsam beginnt aufs Meer hinaus zu treiben. Mit einem leisen Summen begleitet er die Tanzenden, bis er das festlich erleuchtete Floß durch den Abspann nur noch erahnen kann.

Wie es in Porto Bello weitergeht, erfahren sie dann nächste Woche. Wir reisen jetzt um den halben Globus für unsere beliebte Dokumentationsreihe „Wildes Leben Hautnah“. Heute aus der Sibirischen Tundra“

Es dauert ein paar Sekunden bis Paul seine Augen öffnet. Er lässt sich langsam in Richtung Uhr drehen. Schweizer ohne Kabelanschluss möchte er jetzt keiner sein. Eine Woche auf die nächste Folge warten zu müssen, das ist ja unmenschlich. Ist schon der Porto Bello freie Sonntag schlimm genug, der ihm selbst bevorsteht.

(6)

Nachdem er eine Zeit lang auf den abgestellten Fernseher gestarrt hat, startet Paul seinen Sessel. Langsam, nach jeder Umdrehung mit der Fußspitze den exakt richtigen Impuls gebend. Tab! Er fühlt sich leicht. Sein Boot treibt noch immer durch die Nacht, längst ist das Floß zu einem einsamen Lichtpunkt am Horizont zusammengeschrumpft. So war das damals. Und am Montag beginnt die neue Staffel. Endlich! Amalia in Weiß. Tab!

… mit einem Blumenstrauß.

Tab!

Minutenlang dreht er sich zufrieden summend, dann wird der Rhythmus der Wellen allmählich zum Schlagen von Eisenbahnschienen, wird der Sessel zu einem Zugsitz – 2.Klasse. Paul hat gerade seinen Wehrdienst beendet und fährt nach Hause. Nach acht harten Monaten endlich frei. Das Großraumabteil ist fast ausschließlich mit Kameraden gefüllt, die Stimmung bestens, egal was war, heute sind sie alle Freunde.

In jedem Bahnhof steigen ein paar aus, werden von den übrigen mit lautem Gesang verabschiedet: „Alle rüst‘ ma a! Alle rüst‘ ma a! – Nur der O-V-D bleibt da!“

Paul sieht die Ausgestiegenen am Bahnsteig winken, dann fährt der Zug wieder an. Was werden die wohl aus ihrem Leben machen, jetzt, wo sie sämtliche staatlichen Zwänge hinter sich gebracht haben? Es stehen ihnen so viele Möglichkeiten offen. Eine ungewohnte Euphorie erfasst ihn.

Am Ende sind sie nur noch zu viert, die am Zugendbahnhof aussteigen, sich in der großen Halle gegenseitig auf die Schultern klopfen und versprechen, in Kontakt zu bleiben. Paul hat keinen der Drei je wiedergesehen. Aber ein so intensives Gefühl von Zuversicht und Freiheit, wie an diesem Nachmittag, hat er nie wieder erlebt. Das lange endlos scheinende Kapitel des Drucks von oben war zu Ende und ein neues, unweit spannenderes, würde ihn bald schon über die freie Uni in ein selbst bestimmtes Leben führen. Er wusste nicht, was die Zukunft bringen würde – und zum ersten Mal fühlte sich das gut an.

Na ja, man kann nicht immer Recht behalten. Paul dreht sich weiter. Tab!

– Tab! – Tab! Amalia und Greg, wenigstens die beiden haben es bald geschafft. In zwei Tagen! Paul lässt den Sessel auslaufen, steht auf und geht zur Stereoanlage.

Diesmal muss er nicht lange suchen. In der letzten Staffel hat Garth Brooks, ein Countrysänger den man in den USA offensichtlich kennen sollte, einen Gastauftritt gehabt. Da ihn Paul nicht gekannt hat, hat er sich eine CD besorgt. Country, na ja, man muss es ja niemandem erzählen.

Er legt die Scheibe ein, wählt Lied Nummer vier, „The Dance“, schaltet auf „Repeat“ und setzt sich wieder. – Tab! – Die Musik beginnt, Paul findet ihren Rhythmus sofort. – Da da Tab! – „Wenn ich an unseren Tanz unter den Sternen denke” – Da da Tab! – „dann könnte ich auf so vieles Verzichten, das ich seither erlebt hab.“ – Da da Tab! – „Aber dann müsste ich auch auf den Tanz verzichten.“ – Da da Tab! – „Auf unseren Tanz!“ – Da da Tab! – Greg mag nicht der Welt größter Tänzer sein, aber als Profisportler hat er seinen Körper natürlich unter Kontrolle. – Da da Tab! – Amalia lächelt. Sie ist es, die führt. – Da da Tab! – Das Floß ist leer, nur die Band spielt leise in einem Beiboot. Aber Musiker sind sehr diskret. – Da da Tab! – Paul zieht sie ganz nah an sich. Als Österreicher lernt man das Tanzen in einer eigenen Schule. Hast du das gewusst? – Da da Tab! – Das Lied ist aus, beginnt von Neuem. – Da .. da ..Verdammt!

Paul bremst abrupt. Die kurze Pause hat gereicht, um einen ganz anderen Tanz in seine Erinnerung zu drängen. Schnell schließt er die Augen, versucht das Lied wieder einzuholen. Da da Tab! – “Looking back” – Da da Tab! – “On the dance we shared” – Amalia ist verschwunden, Paul sitzt in der Portiersloge eines der besten Hotels der Stadt. – Da da Tab!! – Um seinen Studentenunterhalt aufzubessern arbeitet er jeden Samstag als Nachtportier. Kreta als Kellnerin im hoteleigenen Restaurant. – Da da Tab!!! – Wäre das Hotel nicht so ein beliebter Ort für Hochzeitsgesellschaften, die beiden wären sich vielleicht nie begegnet. – Da! Da! Tab!!!! – Aber an Hochzeitsabenden überschneidet sich ihr Dienst manchmal sogar beträchtlich, da sich Kreta gerne zum Spätdienst einteilen lässt. Dann muss sie vor Ort bleiben, bis auch der letzte Gast den Saal verlassen hat.

Paul bremst ab, er gibt auf, lässt das Lied endgültig davonlaufen.

And I, I’m glad I didn’t know,

the way it all would end,

the way it all would go-o-o-oh.”

Es war weit nach Mitternacht, er hatte es sich gerade in der Portiersloge bequem gemacht und ein Buch aufgeschlagen, als Kreta plötzlich vor ihm stand und flüsterte, „Komm bitte mit.“ Wobei sie ein Lächeln nicht ganz unterdrücken konnte.

Er stand auf. „Was gibt’s denn?“

Kreta ging voraus, einen Gang hinunter, öffnete die Tür zu einer Abstellkammer und drehte sich um, diesmal ungezwungen grinsend. „Die Herrschaften brauchen ein Taxi.“

Das Bild war ziemlich skurril. Offenbar hatte ein Paar dem Hochzeitswein dermaßen zugesprochen, dass sie beim Versuch, die Feier zu verlassen, eine falsche Tür erwischt hatten. So weit so gut. Der Ehemann hatte sich daraufhin im Türrahmen niedergelassen und begonnen, mit unübersehbarem Amüsement die erfolglosen Aufstehversuche seiner Frau zu bejohlen, die zwischen Besen und Eimern aus dem Gleichgewicht gekommen war.

Du ihn, ich sie.“ Sagte Kreta und nahm sich der Schwankenden an. Paul beugte sich nach unten.

Mei- meine Frau hat… Ein klitzekleinwenig zzu viel getrunken.“

Ja mein Herr. Offensichtlich. Kommen sie bitte.“

Haha! Hast du das gehöört Beatriksch? Oofensichtlich. Offenschichtlich zu viel getrunken. Hau Ruck.“ Damit stand er, wenn auch mit erheblichem Kraftaufwand von Pauls Seite.

Während der Mann jeden seiner Schritte lauthals kommentierte, war seiner Beatrix die ganze Situation unendlich peinlich. Auf jeden Fall wurde sie nicht müde, Kreta mit gehauchter Stimme dessen zu versichern. Kreta erwiderte, dass sie Schlimmeres gewohnt war und immerhin hoffen durfte, die Aktion trocken zu überstehen.

Troocken. Haha. Uuups!“, sagte der Mann, aber da hatten sie den Taxistand schon fast erreicht. Der heraneilende Schritt des Taxlers hatte sich bei genauerer Begutachtung der Fahrgäste zwar erheblich verlangsamt, aber nachdem klar war, dass der Mann seine Adresse noch verständlich aussprechen konnte, war für Kreta und Paul der Fall erledigt.

Kommt so was öfter vor?“

Kreta blieb vor dem Eingang stehen und betrachtete die Sterne. „Hin und wieder. Aber ausgerechnet der Typ ist mir heute schon den ganzen Abend auf die Nerven gegangen. Jedes Mal eine anzügliche Bemerkung, wenn ich vorbei gekommen bin. Und dann hat er mich sogar einfach geschnappt und auf die Tanzfläche gezogen.“

Und?“

Ja, was soll ich groß machen? Unfreundlich soll man zu den Gästen ja auch nicht sein.“

Bis zum nächsten Samstag hat Paul diese Situation in den verschiedensten Varianten weiter gespielt. Von „Wenn du das nächste Mal Probleme hast, dann rufst du einfach mich.“ über „Was, SO hat er dich geschnappt?“ bis zu „Willst du die schlechte Erinnerung nicht mit dem Richtigen raustanzen?“ Das Ende war auf jeden Fall immer dasselbe, er und die hübsche Kollegin im Walzerschritt durch den leeren Ballsaal schwebend. In der de-luxe Version ist sogar einer der Musiker zurückgekommen, der seinen Notenständer vergessen hatte und hat das elegante Paar begleitet. – The dance!

Vor einem Jahr etwa, hat Paul eines Abends, mehr auf das Puzzle auf seinen Knien konzentriert denn auf das Prominententanzturnier, vor dem Fernsehen gesessen. Als er sich plötzlich ganz in Gedanken zu Kreta gedreht hat und den Satz. „Erinnert dich das nicht irgendwie an unseren Tanz damals, im Ballsaal?“, erst im letzten Moment herunterschlucken konnte.

But then I would have had to miss the dance“

Paul springt auf, gegen Country hilft nur lauter Rock.

(7)

Eine stumme Stereoanlage anzustarren macht genau so viel Sinn, wie einem schwarzen Fernseher zuzuhören. Aber auch nicht weniger.

Es ist Abend geworden. Paul betrachtet die großen Regler. „In welche Richtung dreht sich das linke Zahnrad, wenn sie das große gegen den Uhrzeigersinn bewegen?“ Mit solchen Fragen wollte man beim Bundesheereignungstest sein technisches Verständnis ausloten. Egal, als Versicherungssachbearbeiter benötigt er sowieso andere Fähigkeiten. – Und zwar?

Ja, Herr Richter. Was glauben Sie? Was sind die besonderen Fähigkeiten, die Sie für unseren Job mitbringen sollten?“

Soll er jetzt ehrlich sein und antworten: „Da gibt es keine, und die bringe ich alle mit.“? Dann könnte er sich wenigstens für seine Ehrlichkeit rühmen.

Paul stößt sich kraftvoll ab. Je unangenehmer die Gedanken, umso schneller werden seine Undrehungen. Am Montag muss er sich bei einer Versicherung vorstellen gehen. Wäre normalerweise ein Grund für ihn, heute schon nervös zu sein. In diesem Fall liegen seine Gefühle jedoch anders. Der Ausgang des Gesprächs ist vollkommen bedeutungslos. Herr Paulsen hat ihm schon vor Wochen einen anderen Job besorgt, den er in neun Tagen antreten soll. Ohne lästiges Vorstellungsgespräch.

Warum haben Sie eigentlich ihren alten Job verloren, Herr Richter?“

Paul muss die Frage nicht beantworten, nicht für diesen Job. Er stößt sich ab, bringt den Sessel ins Wanken, alle Gleichgewichtsorgane schlagen gleichzeitig Alarm, er hält sich mit beiden Händen an den Armstützen fest und findet die Balance gerade noch wieder.

Black-Fax Gate“, hat Bernd die Geschichte getauft und Paul gibt offen zu, dass sich schon bessere Ideen als grober Schwachsinn entpuppt haben. Aber es gibt auch den Begriff der beschränkten Zurechnungsfähigkeit und auf wen trifft der wohl besser zu, als auf einen jungen Mann, der gerade von seiner ersten großen Liebe verlassen worden ist? Da kann man schon einmal aus Versehen eine Kopie von der schwarzen Rückseite eines Dokumentes machen und sich dann über den vergeudeten Toner ärgern, obwohl der einen selbst gar nichts kostet, weil man ja im Büro einer großen Versicherungsgesellschaft arbeitet und tagein tagaus die wenig kreativen literarischen Ergüsse wenig kreativer Kunden aus wenig kreativen Kleinschadenformularen der Haushaltsversicherung auswerten darf, wofür einem der Arbeitgeber großzügigerweise sämtliche Büroartikel zur Verfügung stellt, man sich bei einer schwarzen Kopie also vielleicht über die eigene Dummheit ärgern darf, diese aber nur dann finanzielle Folgen nach sich ziehen würde, wenn man selbständig wäre und aus der eigenen Tasche für Toner-Nachschub sorgen müsste, so wie der Kerl, dessen unnachahmlicher Charme für den momentanen eigenen Gemütstiefstand verantwortlich zeichnet, der aber nach Größe und PS-Zahl seines fahrbaren Untersatzes zu schließen, jede Summe leicht verschmerzen könnte, selbst wenn die schwarzen Seiten immer wieder und in immer kürzer werdenden Abständen über sein Fax herein kämen, weil jener bemitleidenswerte Mensch, dem man gerade den Lebensteppich unter den Füßen weggezogen hat, es sich zu Hause, in der heilen Welt seines Lederdrehsessels in den schillerndsten Farben ausgemalt hat, wie der verhasste Nebenbuhler über den staubigen Büroboden kriechen wird, um all die schwarzen Seiten aufzuheben, dabei abwechselnd an der Zuverlässigkeit seines Faxgeräts und der eigenen Gehirnwindungen zweifelnd, der aber nicht in Betracht gezogen hat, dass mit jedem Fax auch die Absendernummer verschickt wird und ihn am nächsten Vormittag der Abteilungsleiter in sein Büro zitieren könnte.

Dabei ist alles nur ein harmloser Scherz gewesen. Eine klitzekleine Revanche für das erlittene Unrecht. Das schwarze Blatt eingelegt, Andys Nummer getippt, lächelnd auf „Senden“ gedrückt. Beim ersten Mal noch gezögert, dann befreit gegrinst. Eine Minute später noch einmal, die Nummer blieb ja gespeichert. Dann im Vorbeigehen hie und da und vielleicht später noch einmal.

172 Seiten! Richter, sind sie vollkommen wahnsinnig?!“

172? Das war sicher übertrieben. Gut, da waren einmal gleich fünf hintereinander, oder gar zehn?

Andy wollte nicht, dass du gleich entlassen wirst, Paul. Wirklich nicht. Aber du verstehst schon, dass er sich aufgeregt hat?“

Ja klar! Der große Held in goldener Rüstung war natürlich vollkommen unschuldig. Hatte nur laut bellend sein verpisstes Revier verteidigt.

Paul hat zu einem gleichmäßigen Drehen zurück gefunden. Viel dümmer hätte er sich wirklich nicht anstellen können. Nach dieser Aktion hatte er nicht einmal mehr das Mitleid auf seiner Seite. Aber das kommt davon, wenn ausgerechnet er einmal spontan sein will. Dabei hatte sich die Idee so gut angefühlt, war weit innovativer gewesen als Luft-aus-den-Reifen-lassen oder Zucker-in-den-Tank-schütten. Und die Toner Industrie musste schließlich auch unterstützt werden!

Ob heute irgendjemand zu Kretas Party kommt, der die Geschichte noch nicht gehört hat? – Der Ully! Aber natürlich, der freundliche Ully, der weit hinter dem Vorarlberg wohnt, der wird das wahrscheinlich gerade im Moment erzählt bekommen. Von Kreta, oder von Andy, oder am besten von beiden zusammen, in harmonischer Doppelconférence.

Wirklich? Das hätte ich mir nicht gedacht, vom Paul. Dabei hat der so ruhig gewirkt auf mich, heute Morgen, hat sogar gemeint, er kommt vorbei, heute Abend, vielleicht. Odrr?“

Der Paul? Nein, den wirst du hier sicher nicht sehen. Der sitzt zu Hause und träumt in seinem Sessel Löcher in die Luft.“

Von wegen! Paul springt auf. Mit einem sicheren Griff hat er seine Jacke in der Hand. Na, die werden Augen machen! Wäre ja noch schöner. Er wird am Samstagabend nicht zu Hause bleiben. Hinein in seine Schuhe. Waren ja schließlich alle auch einmal seine Freunde. Laut fällt die Wohnungstür hinter ihm ins Schloss.

Kein Wunder, dass sie ihn nicht eingeladen hat. Wenn dieser Andy erst einmal aus seinem Auto gestiegen ist, dann muss er jeden Vergleich fürchten. Ist wie mit den Spaniern, da haben die Azteken auch lange geglaubt, dass das Pferd zum Götterwesen dazu gehört.

Außer einer Öffnung zum Cocktails Reingießen hat Andys Mund nämlich keinerlei Zusatzfunktion, etwas Ernstzunehmendes ist da noch nie rausgekommen und das kann er nicht lange verheimlichen. Die arme Kreta kann einem fast leid tun. Hat sich mit den Partyvorbereitungen solche Mühe gegeben und dann das. Eine Breitling am Handgelenk macht eben noch keine Konversation und wenn ihre Freunde erst einer nach dem anderen gezwungen lächelnd in eine andere Ecke des Zimmers geflüchtet sind, dann wird sie schon merken, was sie sich da eingehandelt hat.

Oh je. Andy, das wollte ich nicht, dass du gleich verlassen wirst. Aber du verstehst schon, dass ich mich nur locker mit meinen alten Freunden unterhalten habe? Man kann die Leute schon anfangs mit seiner aufgesetzten Lässigkeit beeindrucken. Und das hast du auch sicher drauf, sonst wärst du kein so erfolgreicher Anlageberater. Aber das gelingt einem eben nur eine gewisse Zeit lang, dann kommt das wahre Ich schonungslos durch. Mach dir nichts draus, das geht jedem so. Und wenn man nun mal ein Arschloch ist, dann hat man halt recht schnell ausgeschissen.“

Ungewolltes Wortspiel, egal, er kann es ja umformulieren. Aber warum eigentlich? Wenn etwas gesagt werden muss, dann darf man es auch sagen. Manche Typen verstehen nur eine klare Sprache: „Pack deine Wunder-Flunder und hau dich auf die Autobahn!“ Idiot, Arschloch, Dreckskerl! – Kein Gemüse wird Pauls Wut gerecht.

Mit schnellen Schritten überquert er eine kaum befahrene Altstadtstraße. Jetzt ist es nicht mehr weit. Er wird anläuten und Kreta wird ihm öffnen. „Hi!“, ein kleiner Kuss – auf die Wange versteht sich, für eine alte Freundin. Alles längst vergessen und verheilt. Und dann mal schauen, wer sonst noch da ist. Der Ully natürlich, aber den hebt er sich für später auf. Am besten mitten hinein in ihre Kolleginnen, diesen Radieschenausbund an aufgesetzter Freundlichkeit, der von Anfang an nur getuschelt hat. „Also, was sie von dem Waschlappen bloß will?“

Mädels! Hallo, was läuft? Immer noch im Hotel? Oder hat euch endlich eine Platinkreditkarte von dort weggeheiratet? Schon blöd, wenn man seine Auswahlkriterien so eindimensional ausgelegt hat. Kreta sieht das gerade ein. Hat nur etwas Abwechslung gebraucht um zu erkennen, was sie wirklich will.“

Und da steht er ja, Gottes selbsterklärtes Geschenk an die Frauen. „Wie geht’s? Toller Autoschlüssel übrigens, hätte ihn fast nicht bemerkt, so dezent, wie er aus deiner Hosentasche raushängt. Hast du gewusst, dass „Audi“ auf Lateinisch „Horch“ bedeutet, so wie der Gründer der Marke? Wie machst du das eigentlich, wenn dir Kreta ihre berühmten Fragen stellt? Und außerdem …“

Paul? .. Hi! Du kommst auch zur Party?“

Wie? Wo? Was? – „Äh,… Emma?“

Emma ist die Freundin von Michi, Kretas kleinem Bruder, der das großmütterlich vererbte „Margarethe“ als Sprechanfänger zum akustischen Pendant jener griechischen Insel hatte werden lassen und seiner Schwester damit für alle Zeiten zu ihrem Spitznamen verhelfen sollte. Emma steht plötzlich überrascht vor Paul, eine Ecke und knappe 30 Meter Luftlinie von Kretas Wohnung entfernt und als sich Paul wieder halbwegs in der Realität eingefunden hat, wartet sie schon seit geraumer Zeit auf die Beantwortung ihrer Frage.

Paul?“

Nein.“

(8)

Nein! Nein! Nein! Und nochmals nein! Das ist jetzt alles nicht passiert. Wie peinlich kann man sich eigentlich noch anstellen?

Paul hat Emma ohne ein zweites Wort stehen lassen und möchte jetzt nur so schnell wie möglich nach Hause. Leider lässt ihm seine Hektik nicht die Zeit, zu überlegen. Eine Kreuzung rechts, bei der nächsten Ecke wieder nach links. Weiter! Der schnellste Richtungswechsel war noch immer der beste.

Warum? Warum nur? Idiot! Warum?

Warum nur musste er dorthin gehen? Warum nur hat er sich derart aus der Fassung bringen lassen? Natürlich musste Emma annehmen, dass er zur Party gekommen war. Man hat ja sogar schon das Lachen von oben gehört. Und gelacht wurde dort jetzt erst recht. Und wie! Gelacht über ihn, den Versager. – Ob sein Vater auch eingeladen war?

Kurz hat Paul jegliche Orientierung verloren, er stolpert, tritt in eine Wasserlache, flucht, nur um drei Schritte später das Gleichgewicht ausgerechnet vor seinem Stammlokal wieder zu finden.

Das „Tellerrand“? Wie um alles in der Welt?

Verblüfft starrt er auf die Leuchtreklame. Bernd arbeitet hier, sein bester Freund. Soll er?

Pauls Füße bleiben unruhig, aber sein Kopf späht schon durchs Fenster. Vollkommen überfüllt, wie jeden Abend. Deswegen kommt er ja auch nur mittags her, wenn weniger los ist und Bernd noch Zeit für ein Gespräch hat. Jetzt steht sein Freund hinter der Bar und zapft geschäftig ein Bier nach dem anderen. Da kann er ihn nicht stören. Obwohl: Wenn er jetzt rein ginge um zu sagen: „Bernd. Ich brauche unbedingt jemanden zum reden.“ Dann würde der sich die Zeit nehmen. Ohne zu zögern. So ein Freund ist Bernd nämlich. Bernd weiß alles von Paul. Er würde Paul nie anlügen. Wie auch umgekehrt – selbst wenn die Wahrheit weh tat.

Und Bernd ist nicht zu Kretas Party gegangen! – Als ob das je zur Frage gestanden hätte.

Paul atmet ruhig. Allein zu wissen, dass die Möglichkeit sich auszusprechen existiert, reicht ihm irgendwie schon. Ist sowieso egal. Und wenn sich in Kretas Wohnung längst alle vor Lachen in den Armen liegen, dann erst recht egal! Doppelt egal. Die ganze Bande kann ihm gestohlen bleiben. Morgen schon wird er beginnen, keinen Gedanken mehr an Kreta zu verschwenden.

Ein letzter Blick in Richtung Bernd, dann findet er den Nachhauseweg von selbst.

(9)

Paul öffnet die Wohnungstür, atmet tief ein und schaltet das Licht sofort wieder aus. New York leuchtet ihm vom Tisch entgegen. – Das funktioniert ja wirklich!

Dam da! dada da da! – Dam da! dada! Start spreadin’ the news….“

Stolz betrachtet er sein Werk. Eine Ampel strahlt besonders hell. Man kann deutlich eine junge Frau erkennen und neben ihr den Exfreund der Schwester ihres Freundes. Sie sind sich zufällig begegnet. Über ihnen die hell erleuchteten Fenster einer Wohnung, Partygäste deuten lachend nach unten. „Ist das nicht Paul?“

Schluss! Paul wirft seine Jacke zu Boden. Fernseher, Stereoanlage, nichts kann ihn jetzt locken. Es gilt nur noch, diesen Tag so schnell wie möglich zu Ende zu bringen.

Bist ja doch gut erzogen worden!“

Ohne darüber nachgedacht zu haben ist Paul ins Badezimmer gegangen. Offenbar kann er ohne Zähneputzen gar nicht mehr schlafen gehen. Obwohl: Die elektrische Zahnbürste war ein Geschenk von Kreta. – Und wie egal ihm das inzwischen ist! – SIE ihm ist, die Wassermelone!

Jetzt nur nicht in den Spiegel schauen! Emma hat sicher gedacht, er hätte sich extra für die Party rasiert. Pauls Blick wandert von einem Waschbeckenrand zum anderen. Er hört die Musik aus Kretas Wohnung. Y.M.C.A.! Unter dem Spiegel liegt eine längst ausgedrückte Zahnpastatube, die wird er morgen wegwerfen. Der Ully lacht wie immer viel zu laut. Paul greift zur Zahnbürste, das Licht der Ladestation schaltet auf Rot. – Kein Kontakt! Wie wahr. Rasch schließt Paul die Augen – doch wen will er damit beeindrucken? Er weiß auch so, dass hinter der Ladestation etwas fehlt. Nichts, das einem Fremden auffallen würde, man muss schon wissen, dass es einmal da gewesen ist.

Hier hat er damals die Bedienungsanleitung hin gesteckt. War der perfekte Ort, dann wusste man immer, wo sie war und musste nicht danach suchen.

Und dann, eines Tages, war sie plötzlich verschwunden. Er hat die ganze Wohnung danach durchsucht, bis Kreta meinte, sie habe sie weggeworfen. Weggeworfen – einfach so, als sei es das Selbstverständlichste der Welt! „Weil sie schon ganz vergammelt und speckig war, vom Wasser und der Zahnpasta, die dauernd draufgespritzt ist.“

Natürlich hatte es keinen Grund gegeben sich dermaßen aufzuregen und natürlich konnte er mit seiner Zahnbürste längst umgehen. Aber darum ging es auch nicht. Es war SEINE Zahnbürste, selbst wenn sie ein Geschenk Kretas gewesen sein mochte. Sein persönliches Eigentum und da hatte sie nichts wegzuschmeißen. Das war ein Prinzip. Und wenn er jetzt eines Tages den Akku wechseln musste?

Aber selbst das war egal, die ganze Sache nur ein weiteres Indiz, wie viel in ihrer Beziehung längst nicht mehr stimmte. Sonst hätte es nie den großen Streit geben können, der sich daraus entwickelt hat, an dessen Ende Kreta weinend die Wohnung verlassen hat, das Wochenende bei einer Freundin verbringen und Andy kennen lernen sollte.

Du dummes, dummes Arschloch, du! Jetzt fällt ihm auch für sich selbst kein Gemüse mehr ein. Paul startet die Bürste. Das Surren beginnt, beim ersten Mal hat er noch gedacht, sich nie an das Kitzeln am Zahnfleisch gewöhnen zu können. – Aber das war nicht das einzige Gefühl, bei dem er sich je getäuscht hätte.

Ansatzlos ausgespült, die Bürste zurückgesteckt und ins Wohnzimmer gegangen. NewYork leuchtet noch immer.

Wenn du dir das versaust,

kannst du dir alles versauen!

Es lag an dir, NewYork, New..“

Mit einem kräftigen Stoß fliegt das Puzzle vom Tisch. Paul stürmt in die Küche. Nur um irgendetwas zu tun öffnet er die Kühlschranktür. In einem einsamen Essiggurkenglas treiben ebenso einsam zwei Gürkchen, und das war es auch schon. Essiggurke! Das hat ihm gerade noch gefehlt.

Neun zornige Bissen später ist seine Küche endgültig lebensmittelfrei und Paul steht im Schlafzimmer. In seinem Mund kämpft der Gurkenessig gegen das Zahnpastamenthol. Kreta hätte ihn schon wieder ausgelacht. Und das mit Recht. Aber genug von ihr! Er wird sich in seine Höhle verkriechen und einen ganz schweren Stein davor rollen.

Paul hat das Leintuch schon in der Hand, das ihm als Bettvorhang dient, als ihn der Anblick seines Betts daran erinnert, vorhin nicht ganz ehrlich gewesen zu sein. Es gibt doch Dinge, die er nicht einmal seinem besten Freund erzählen kann.

Das ist nicht dein Ernst?“, hat Bernd damals gesagt, als er erkennen musste, was es war, das da vor ihnen am Gehsteig stand und das er mit Paul in dessen Wohnung hinauf tragen sollte. „Willst du da oben etwa ein Pfadfinderlager einrichten? Du weißt schon, dass es auch nach Kreta wieder Frauen in deinem Leben geben wird?“

Paul hat mit den Schultern gezuckt. „Hat mir ein Freund von Herrn Paulsen geschenkt. Seine Kinder sind zu alt dafür geworden.“ Und kein Millimeter Pinocchionesker Nasenverlängerung, ja nicht einmal ein Stechen in der Magengegend, als er fortfuhr. „Was hätte ich denn sagen sollen? Sonst hätte es doch nur geheißen: Typisch. Sich erst feuern lassen und dann zu fein sein, ein Geschenk anzunehmen.“

Noch hatte Bernd nicht ganz aufgegeben: „Aber ein Stockbett!?“

Paul hat sich neben das Bett gekniet und während er in seiner Werkzeugschachtel nach dem passenden Schraubenschlüssel suchte, begonnen seinen Großvater zu zitieren. „Einem geschenkten Gaul ..“

.. stinkt’s oft genug aus dem Maul.“, ist ihm Bernd dazwischen gefahren. „Du bist doch keine Fünf mehr. Behalt wenigstens nur den unteren Teil.“

Und den Rest?“

Sperrmüll!“

Paul hat den Kopf geschüttelt und begonnen, die Verbindungsschrauben zu lösen. „Blödsinn. Komm, wir tragen‘s jetzt rauf. Werd dann schon was damit anzufangen wissen. Ich muss ja nur andere Füße drunter machen, dann kann ich die Betten auch nebeneinander aufstellen – im Bedarfsfall.“

Bernd wunderte sich sichtlich über die ungewohnte Entschlossenheit seines Freundes, aber nachdem sich die beiden Stockbetthälften leicht durchs geräumige Altbautreppenhaus hatten transportieren lassen, stellte er keine Fragen mehr, auch als sie aus Platzgründen fürs erste doch übereinander aufgebaut wurden.

Paul schiebt das vorgehängte Leintuch zur Seite und legt sich hinein. In den Brettern über seinem Kopf könnte er bei besserem Licht die Löcher der Reisnägel erkennen, unter denen noch Fetzen von Postern gesteckt hatten, als er das Bett bei einem Flohmarktspaziergang günstig erworben hat – inklusive Gehsteigzustellung durch den Vorbesitzer.

Wie alt sind denn die Kleinen?“

Paul hatte die Frage einen Moment lang nicht verstanden. „Äh. Die Kleinen? Ach so – nein, die gibt es noch gar nicht.“

Was? Sie bekommen Zwillinge? Haben Sie aber ein Glück. Meine beiden waren auch nur 15 Monate auseinander, aber Zwillinge, da kommt ja einiges auf sie und die Frau Gemahlin zu.“

Paul hat gelächelt und hätte an dem Vormittag fast noch Kinderfahrräder für Elba und Malta gekauft. Anschließend hat er mit einer unsichtbaren Kreta darüber debattiert, ob es besser war, Zwillinge immer zusammen, gleichgekleidet, sozusagen als zweiköpfiges Geschöpf auftreten zu lassen, wie sie es sicher gemacht hätte – oder ob man von Anfang an darauf bedacht sein musste, die jeweilige Individualität zu fördern.

Vor seinen geschlossenen Augen laufen zwei blondgelockte Mädchen in weißen Sommerkleidchen Blumen pflückend durch eine Wiese und verbreiten dabei jenes Lächeln mit einer Natürlichkeit, zu der ihre Mutter im Leben nie fähig gewesen wäre.

Dass ihr kinderloser Vater schon heute in ihrem Stockbett liegt, hat jedoch weniger mit weitblickender Familienplanung zu tun, als mit Pauls langjähriger Faszination für dieses Möbelstück. Dass er dabei lieber unten liegt ist noch nichts Besonderes. Oben haben wohl die Meisten Angst herunter zu fallen, sei es nur der Erinnerung an diverse Schulausflüge geschuldet, bei denen Generationen von unten Liegenden das diebische Vergnügen entdeckt haben, den Obermann mit beiden Füßen samt Matratze aus dem Bett zu hebeln.

Bei Paul jedoch, war da immer schon mehr. Er liebte das Gefühl, ein zusätzliches Dach über dem Kopf zu haben und nicht wie zu Hause auf dem Präsentierteller mitten im Zimmer zu liegen, wo man jedem Einbrecher doch sofort ins Auge springen musste. Lange hatte er nicht gewusst, warum er auf Skikursen um so vieles besser schlief. Hätte ja auch die frische Bergluft sein können oder die sportliche Anstrengung.

Er hatte nie darüber nachgedacht, bis er zum ersten Mal alleine in Kretas Wohnung übernachten musste. Dort war es extrem. Ihr Bett stand fast zentral im einzigen Raum, der Schlafbereich war nur von einem Bücherregal beziehungsweise drei breiten Stufen vom Wohnzimmer getrennt, am anderen Ende ebenfalls türlos die Verbindung zur Küche.

Kreta war zu einer Freundin nach Wien gefahren. Paul hatte lange ferngesehen und sich dann, an Kretas Polster geklammert unter den Decken verkrochen.

Es war Jahre her, dass er den „Hofnarr“ zum letzten Mal gesehen hatte, aber es gab da eine Szene, die er über alles liebte. Danny Kaye, der tollpatschige Hofnarr, wird von einer Rebellengruppe in die königliche Burg geschickt, wozu genau, das hatte Paul längst vergessen, war aber auch egal, wichtig war allein die junge Rebellenführerin, die den Hofnarr begleitete und deren Ehemann er zur Tarnung spielen sollte. Der schüchterne Spaßmacher hätte es nie gewagt, sich seiner Angebeteten zu nähern, aber als die beiden vor einem Gewitter Schutz suchend in eine Scheune flüchten, durch deren altes Dach es heftig tropft, da kriechen sie – um den Tropfen auszuweichen – immer näher aneinander.

Diese Szene hat Paul mit Kreta fast jede Nacht nachgespielt, ohne dass sie davon wusste.

An jenem Abend jedoch, allein mit ihrem Polster, hat auch das nicht funktioniert. Nur ihr Geruch war intensiver als sonst, da sich Pauls Finger mit Baumwollstoff und Gänsedaunen begnügen mussten. Er vergrub sich immer tiefer unter den Decken. Es war vollkommen dunkel und ihr Geruch plötzlich überall. Immer noch fühlten seine Finger nur lebloses Weich, er tastete weiter und war im nächsten Moment froh, dass sie diesen Anorak trug. So fror sie wenigstens nicht in der Schneehöhle, die er gegraben hatte, als er einsehen musste, dass sie vor Einbruch der Nacht bei diesem Sturm keine Hütte mehr erreichen würden.

Sie war über eine Felskante gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Paul ist als einziger der Gruppe bei ihr geblieben, während die anderen versucht haben, Hilfe zu holen. Aber dann ist der Schneesturm aufgezogen und er musste sie in Sicherheit zu bringen. Er konnte spüren, wie sie zitterte. Es war eine Mischung aus Schmerz, Kälte und Angst. Seine Hand fuhr über ihren Rücken, er blies ihr beruhigende Worte ins Ohr. Wenn sie diese Nacht überstanden, dann würden sie für immer zusammen bleiben.

Seit dem Skikurs der sechsten Klasse hat „Sie“ viele Gesichter gehabt. Lange war es dann Kreta, obwohl sie die Berge hasste. Heute hat „Sie“ keinen Namen, aber der Blick in ihre Augen wird ihn die Enttäuschungen der letzten Monate bald schon vergessen lassen.

Paul schiebt das Polster aus seinen Armen. Es riecht maximal nach ihm selbst. Nachdem Bernd damals gegangen war, hat er das Stockbett ins Eck gestellt, einen Kasten an das freie Ende geschoben und die offene Seite mit einem Leintuch verhängt – wegen der Gelsen, falls ihn einmal jemand fragen sollte. In dieser Höhle ist etwas Platz. Gerade so viel, als wäre die zweite Person, für die sie gegraben wurde, nur kurz hinaus gegangen.

Paul schließt seine Augen. Er beginnt sich zu entspannen. Aus der Wand kommen leise die ersten Takte eines langsamen Walzers. Er zieht das Polster wieder an sich. Für Amalia bräuchte er keine Schneehöhle, die würde in Österreich sowieso die ganze Zeit frieren. Dann würden hier auch bald die Zwillinge einziehen, er muss ihr ja nicht erzählen, wie er auf die außergewöhnlichen Namen gekommen ist – obwohl, die klingen ohnehin sehr brasilianisch. Die Musik wird deutlicher, intimer. Paul lächelt. Er summt.

Am Montag beginnt die neue Staffel. Amalia und Greg. Für immer und ewig. Ta ! – Ta ! – Ta-Tam! Ta ! – Ta ! – Ta-Tam!

Nach ein paar Minuten haben ihn die Wellen, die rhythmisch gegen das Floß schlagen, sanft in den Schlaf gewiegt.

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