Er nannte sie Madonna.
Er hatte sie immer so genannt, sie wusste nicht mehr, seit wann sie den Namen hatte. Jemand war auf die Farm gekommen, unsichtbar, in der Nacht, hatte einen Zettel hinterlassen. Komm zum großen Mangobaum, am Ende der Reisfelder, wo der Pfad auf den Berg beginnt. Komm allein. Morgen, mit Einbruch der Dunkelheit.
Nun stand sie ihm gegenüber, und sie hatte entsetzliche Angst.
Du musst zahlen, Madonna, sagte er, und der Boden unter ihr gab nach und drohte sie zu verschlingen.
Es war später Nachmittag gewesen, als sie die Farm verlassen hatte. Sie hatte das Pferd selbst gesattelt, um unbemerkt wegzukommen. Maria Bonita, die Haushälterin, hatte sich in ihr kleines Steinhaus zurückgezogen, um der Hitze zu entgehen. Sicher putzte sie Stiefel, oder sie bügelte, oder buk eine ihrer Köstlichkeiten für das Abendmahl. Maria arbeitete immer, nie hatte sie sie anders gesehen. Einmal hatte sie zu ihr gesagt, nimm ein paar Tage frei, Maria, fahr in die Stadt, besuch deinen Neffen und lass es dir einfach gut gehen. Maria hatte nur gelächelt und weiter Wäsche aufgehängt.
Die Arbeiter waren draußen auf den Feldern, ebneten den Boden, bereiteten ihn vor, in einigen Tagen würden sie die Erdterrassen mit Wasser füllen und die Reispflänzchen aussetzen.
Teresa öffnete das Gatter, das hinausführte zum Schuppen mit den Maschinen. Das war nicht ihre Richtung, aber sie wollte nicht die Schotterstraße nehmen, wollte nicht an den Reisfeldern mit den Arbeitern vorbei. Sie trug enge Reithosen und eine braune Bluse aus rauhem Leinen. Noch einmal war sie zurückgegangen ins Haus, um die weiße Bluse gegen diese zu wechseln, die sie weniger gut sichtbar machte. Ihren gestreiften Poncho hatte sie über die rechte Schulter gelegt, er begleitete sie immer, hielt sie in Wind und Kälte warm und schützte sie gegen die pralle Sonne.
Sie ritt durch die Herde der Rinder, die bewegungslos auf der Weide standen und sie anstarrten. Noch ein Gatter, dann zum Berg hin, den steilen Anstieg empor. Ginger, ihre braungefleckte Stute, brauchte keine Führung, hundertmal hatte sie ihre Reiterin da hinauf getragen.
Plötzlich waren Hufe hinter ihnen, Teresa sah über die Schulter und hielt das Pferd an. Nelson, der Cowboy, preschte heran und stellte sich ihr gegenüber auf.
Ich komme mit, Senora, sagte er.
Nein, sagte Teresa. Ich reite allein.
Ich komme mit, sagte Nelson noch einmal, fast trotzig.
Teresa wies mit der ausgestreckten Hand in Richtung zur Farm.
Nein, sagte sie.
Sie trieb Ginger weiter, sah sich nicht mehr um und hörte, wie Nelson sich langsam nach unten entfernte.
Kurz blieb sie stehen, als sie den Bergkamm erreicht hatte, blickte zurück auf das Tal unter ihr, auf die weiten Reisfelder, wo ihre Arbeiter sich als kleine Pünktchen bewegten. Sie hielt sich im Schatten eines Baumes, so dass sie von unten nicht gesehen werden konnte.
In einem anderen Moment hätte sie gefühlt, wie sehr sie dieses Land liebte.
Es ging weiter den Kamm entlang, sie hielt sich etwas unterhalb des Rückens, um keine Silhouette gegen den Himmel zu bilden. Das Buschwerk wurde dichter und durchmischte sich mit Bäumen. Der Weg fiel ein wenig nach unten, es wurde schwierig, durch das Dickicht zu kommen. Ginger bewegte sich geschickt, dennoch wurde der Reiterin alle Aufmerksamkeit abverlangt. Dornenzweige kratzten über das Leder, das ihre Beine schützte. Sie hielt die Zügel in der rechten Hand und drückte mit der anderen Zweige und Äste zur Seite. In diesem Moment wünschte sie Nelson würde da sein und mit seiner Macheta den Weg für sie freihacken. Zu ihrer Linken war eine Anhöhe, am höchsten Punt stand ein verkrüppelter Baum. Etwas Buntes leuchtete in den Zweigen. Teresa ritt näher. Ein blaues und ein gelbes Band, ineinander geschlungen, waren um einen Ast gebunden, in einer Höhe, dass sie auch vom Pferderücken kaum zu erreichen waren. Teresa hatte ähnliche Zeichen gesehen und jedesmal war da eine Beklemmung in ihr gewesen, sprachlos und ausdruckslos.
Ein kleines Stück Sonne war noch über dem Horizont, als sie aus dem Dickicht des Dschungels hervorkam und auf den großen Mangobaum zusteuerte. Sie ritt im Schutz der Bäume und stoppte ein Stück vor ihrem Ziel. Teresa spürte das Pochen ihres Herzens. Es war nicht die Anstrengung, es war eine unbestimmte Angst, etwas, was ihr den Hals zuschnürte.
Sie wäre gern weit weg gewesen.
Sie wünschte, es hätte diesen Zettel nie gegeben.
Sie hätte gern eine Hand gespürt, die sich weich auf ihre Schulter legte.
Sie wäre gern tot gewesen, wie ihre Männer.
Teresa stieg vom Pferd, führte Ginger einige Schritte in den Wald und band sie an einem Baumstamm fest. Dann ging sie zu Fuß weiter, und jeder Schritt fiel ihr schwer. Unter dem Blätterdach des Mangobaums blieb sie stehen. Sie wischte sich mit dem Poncho einige Tropfen Schweiß von der Stirn und musterte die Umgebung.
Vor ihr ein weites Feld, auf dem kniehoch der Reis stand. Ein Feld, das ihr gehörte, an der äußersten Grenze ihres Besitzes, erst in einigen Wochen würde hier wieder die Arbeit beginnen, das Sprühen der Pestizide, bevor die Pflanzen zu groß waren. Hinter ihr der undurchdringliche Urwald, aus dem sie gerade gekommen war. Etwas war da, aber sie konnte es nur fühlen, nicht sehen. Ein schmaler Weg lief den Wald entlang, auf der anderen Seite gesäumt von einigen Mangobäumen. Wo sie stand, machte er einen leichten Knick, dort stand der große Baum.
Die Sonne war untergegangen, feuriges Orange färbte den Himmel. Sie meinte Ginger schnauben zu hören, sie hörte das Knacken von Ästen, und ein Wind, der nicht da war, rauschte in Blättern. Vielleicht spielten auch ihre Sinne mit ihr. Sie stand, lange, der Himmel über dem Feld war in Rot übergegangen, heller werdend, gleichzeitig wurde das Blau von oben her dunkler, und ein wenig schmutziges Grau legte sich darüber. Eine Stunde war vergangen, oder mehr, aber sie wollte nicht auf die Uhr sehen. Sie hatte aufgehört um sich zu sehen, sie starrte nur auf die grünen Halme vor ihren Füßen.
Sie hatte ihn nicht kommen hören, da war kein Knacken von Ästen gewesen, und Ginger hatte nicht geschnaubt. Er stand vor ihr, erst sah sie nur seine schwarzen Stiefel. Sie hob langsam ihren Kopf, ohne ihn direkt anzusehen. Er trug eine schwarze Armeehose im amerikanischen Stil, ein Buschhemd, ein Messer am breiten Gürtel. Keine Pistole. Kein Gewehr.
Sie zwang sich ihn anzusehen. Sie kannte sein Gesicht. Einige Male war sie ihm begegnet, wenn sie zur Nachbarfarm fuhr, die ihren Neffen gehörte, in der Zeit, als es möglich war, dorthin zu fahren. Dort war er am Tor gestanden und hatte ihr geöffnet. Damals musste es gewesen sein, dass er sie erstmals Madonna genannt hatte. Einmal noch hatte sie ihn gesehen, auf einem Bild in der Lokalzeitung. Der schwarze Bart umrahmte die dünnen Lippen, sein Gesicht war härter geworden.
Du musst zahlen, Madonna, sagte er.
Ich werde nicht zahlen, presste sie hervor.
Er wird sterben, Madonna.
Du wirst ihn freilassen, bevor euch die Armee findet.
Er lachte trocken auf und blickte auf die Seite. Sie folgte seinem Blick. Einige hundert Meter entfernt, vor den Hintergrund der Bäume schwer zu erkennen, standen seine Männer, fünf oder sechs, und Gewehre blitzten im schwindenden Licht.
Teresa stand vor dem Führer der Paras und er würde töten, wenn sie nicht auf seine Forderungen einging. Vor zwei Wochen war Teresas Verwalter verschwunden. Er war unterwegs gewesen zu einem der Bewässerungskanäle auf der Farm, um die Reparatur einer Schleuse zu überprüfen. Spätabends kam die Frau des Verwalters ins Farmhaus, weinend und verstört. Er war nicht zurück gekommen. Am nächsten Morgen fanden sie sein Pferd, angebunden an einem Baum, neben der Schleuse. Ein Stück entfernt, an einem Strauch, hingen ein blaues und ein gelbes Band, ineinander verflochten. Er würde sterben, wie der Sohn des Farmers jenseits des Flusses gestorben war, und viele andere, die Teresa gekannt hatte.
Wieviel, fragte sie.
Er nannte eine Summe. Jeden Monat, am ersten Sonntag. Dort oben. Er streckte die Hand aus und wies auf den Berggipfel, der jenseits der Felder in einem Dunstschleier schwach zu erkennen war.
Dann töte ihn.
Teresa sah ihm ins Gesicht, trotzig, entschlossen. Sie wandte sich um und ging los.
Sie wollte schreien, laufen, weg von all dem, so lange laufen, bis nichts mehr da war von der Drohung und der Angst und dem Sterben. Aber sie zwang sich, nicht zu schreien und nicht zu laufen. Sie ging ruhig und sah sich nicht um.
Madonna. Warte. Seine Stimme klang plötzlich heiser.
Sie blieb nicht stehen.
Warte. Wir müssen reden, Madonna.
Sie ging weiter, langsamer, aber sie blieb nicht stehen.
Seine Stimme rief einen Betrag.
Sie ging ganz langsam.
No, sagte sie.
Sie hatte das Gefühl, dass er hinter ihr herkam.
Wieder nannte er einen Betrag.
Sie spürte eine stille Freude. Keinen Triumph. Es war nichts gewonnen, es war nur mit einem Mal eine Chance da.
Teresa blieb stehen, drehte sich um zu ihm. Er stand knapp vor ihr.
Nun nannte sie einen Betrag. Zweimal im Jahr, an der Brücke zum Dorf, sagte sie.
Du bist verrückt, Madonna. Jetzt klang seine Stimme erregt.
Sie wandte sich weg von ihm und begann zu gehen.
Wenige Schritte nur, dann war hinter ihr ein unterdrückter Fluch, dann etwas wie ein verächtliches Grunzen.
Teresa stand.
Sonntag, sagte die Stimme. An der Brücke, Madonna.
Sie drehte sich nicht mehr um.
Sie fühlte nichts, keine Genugtuung, keine Erleichterung.
Sie hatte nicht gewonnen, niemand hatte gewonnen. Es ging bloß wieder irgendwie weiter.
Nun war es da, das Würgen im Hals, die Tränen brachen hervor und sie lief los. Sie wollte laufen, bis nichts mehr da war von all dem. Sie wäre nie stehen geblieben, wäre nicht mit einem Mal Gingers Schnauben da gewesen und hätte sie gerufen.
Teresa sprach fast nie über jenen Tag und jene die folgten. Wenn sie es tat, blieben Fragen offen. Einige Male im Jahr ritt sie allein los und wollte niemanden bei sich.
Eines Tages, Jahre später, erschien in einer Lokalzeitung eine Liste. Namen, mehr als hundert. Darunter Farmer der Umgebung, einige Geschäftsleute, der Inhaber des winzigen Geschäftes im Dorf, der Maschinenhändler, der Lieferant der Spritzmittel für die Felder. Einige Namen, die niemand kannte. Der Artikel sagte, dies seien Personen, die die Paramilitärs und deren Überfälle finanzierten. Personen, die jeden Monat Geldbeträge an die Bewegung übergaben, auf einem Berg in der Nähe des Dorfes. Woher die Information kam, stand nicht im Bericht.
Teresas Name stand nicht auf der Liste.
© Helmut E. Zsifkovits 2008