Sommerexodus

Die Augenbrauen verloren ihre Sinnhaltigkeit. Der Schweiß rannte über die angespeicherten Haarbüscheln, links und rechts an ihnen vorbei und brannte schließlich in den Augen. Mit dem nackten Handrücken den Schweiß wegzuwischen war vergebens, da genauso voller nassem Salz und das T-Shirt sowieso schon durchnässt. Ein typischer Stadthochsommer eben. Nur aus den offenen Kellern der Altbauten kam so etwas wie ein Strom gruftiger Abkühlung. An den Kellerfenstern blieb ich auch gerne stehen und sah, wie die heißen Autodächer zu brennen schienen. Dann starrte ich in das dunkle Loch eines Kellers und der Teufel hätte unten sitzen können, um mich zu fotografieren, oder der Tod selbst um mich auszulachen, ich sah nur Schwarz, da die Pupillen atomisch klein. Ich fühlte mich von der Hitze erdrückt und niemand anderer tat sich diese idiotische Innenstadt tour de force an. Nur ich stand da, sprang von Kellerloch zu Kellerloch und erkannte nur noch Hitzewolken, wie sie alles um mich und in sich verschwimmen ließen. Ich war mir nur sicher, dass mein Kreislauf das nicht mehr länger auf sich nehmen wollte.

Eine Beton- und Ziegelmeile weiter trat ich wieder aus einem gruftigen Windkanal eines Kellermauls heraus und blieb vor einem metallenen Mistkübel stehen, der brannte und doch nicht brannte. Ich trat näher, um mir die außergewöhnliche Erscheinung, oder Sinnestäuschung näher zu geben. Tatsächlich brannte der Müllfresser und doch nicht. Und am Sprung zum nächsten Kellerkühl traf mich mein Name im Rücken aus dem Mistkübel mit wohlmodulierter, tiefen Stimme.

„Michael, hier bin ich.“

„Wer?“

„Frage nicht! Dreh dich um. Aber komm nicht näher heran! Lege deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist ein heiliger Boden.“

„Hey, lustige Sinnestäuschung. Wenn ich meine Schuhe jetzt ausziehe dann kann das am heißen Asphalt nicht unbedeutend wehtun.“

„Dann mach doch schnell ein Opfer!“

„Mit was und wie?“

„Ziegen, Kühe, Schafe … .“

„Ich besitze nichts dergleichen. Ich könnt’ höchstens meine Wurstsemmel in dich schmeißen.“

„Dann mach das! Ich bin nämlich herabgestiegen, um dich und dein Volk aus diesem Land hinauszuführen, in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen, in das Gebiet der Kanaaniter … .“

„Moment Mistkübel. Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause, um mir meine Badehose und mein Handtuch zu holen. Und dann ab zum Schotterteich.“

„Die laute Klage deines Volkes ist zu mir gedrungen, und ich habe auch gesehen, wie die … .“

„Welches Volk? Heute gibt es nur noch Staaten, Staatsbürger, Länder und Menschen die dort wohnen und so.“

„Ich spreche von deinem Volk.“

„Du meinst Fußpilzvölker. Hämorridenkulturen?“

„Opfere!“

„Schon wieder?“

„Opfere für deinen Starrsinn!“

„Dann hab’ ich aber nichts mehr zu essen!“

„Dann ziehe deine Schuhe aus!“

„OK. Da hast du meine letzte Wurstsemmel.“

„Ich habe dich gesandt, und als Zeichen dafür soll dir dienen: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr Gott an diesem Mistkübel verehren.“

„Von mir aus. Mein „Volk“ wird sich aber ein bisschen fragen, welchen Gott wir da verehren sollen? Den Sandlerkönig Eberhardt?“

„Ich bin der „Ich-bin-da“. Sag einfach: der „Ich-bin-da“ hat mich zu euch gesandt.“

„Ich glaub’ eher, dass mein Volk dann glauben wird, dass ich stottere, oder einem Grammatikdefekt unterliege.“

„Dann sag einfach Jahwe zu mir, denn so wird man mich in allen Generationen nennen. Nimm nun dein Volk und gehe in die Wüste, um mir Opfer zu bringen.“

„Bei dieser Hitze in die Wüste? Wie wär’s mit dem Schotterteich?“

„Wie sieht die Vegetation am Schotterteich aus?“

„Ein paar Sträucher, eine Würstelbude und hauptsächlich Steine, aber auch Wasser.“

„Ich will keine Würstelbude. Geh in die Wüstebude, äh Wüste  mit deinem Volk.“

„Ich meine, sehr, sehr viele Steine, kahle Steine. Unschöne, spitze, grausliche Steine. Und wenn man an der Würstelbude steht und sein Bier trinkt, dann sieht man nur einen Strauch und kein Wasser mehr. Eigentlich ist das dann wie eine … Wüste.“

„Ist der Schotterteich drei Tagesmärsche entfernt?“

„Bei dieser Hitze kommt es einem schon so vor.“

„Dann führe dein Volk zum Schotterteich. Aber man wird euch nicht ziehen lassen. Erst wenn ich meine Wunder vollbracht habe, dann wird man euch ziehen lassen.“

„Wenn ich dir noch lange zuhöre wird es ein Wunder sein, wenn ich heut’ überhaupt noch zum Schotterteich komme.“

„Nimm dein Volk!“

„Aber von welchem Volk sprichst du die ganze Zeit du Mistkübelerscheinung?“

„Opfere!“

„OK. Ich nehme alles zurück! Jetzt mal eine andere Frage: Was ist wenn mir mein Volk nicht wirklich glaubt, dass ich es in deinem Namen, Jahwe wohlgemerkt, zum Schotterteich führen soll?“

„Was hast du da in der Hand?“

„Einen Ast, den ich von dem Strauch da hinten abgerissen habe.“

„Wirf ihn zu Boden.“

„Ist Passiert. Und?“

„Pack’ den Schwanz!“

„Ich soll mich am Schwanz packen? Also, du bist mir schon ein seltsamer. Gibt’s noch mehr von dir?“

„Bei Gott, äh nein, ich bin der einzige.“

„Na, dann ist es ja gut!“

„Pack die Schlange am Schwanz!“

„Welche Schlange?“

„Der Ast ist doch zu einer Schlange geworden?“

„Nein, nicht wirklich. Der Ast ist ein Ast geblieben. Er liegt jetzt halt am Boden, nicht mehr in meiner Hand. Du wolltest den Ast in eine Schlange verwandeln?“

„Ich werde alt. Mein Sohn, als der Stock auf dem Boden aufkam hätte er sich in eine Schlange verwandeln sollen. Wenn du die Schlange am Schwanz gepackt hättest wäre die Schlange wieder ein Ast geworden.“

„Ich heb’ jetzt den Ast wieder auf. Ja, jetzt hab’ ich wieder einen Ast in der Hand. Das mit der Schlange dazwischen vergessen wir einfach wieder, OK? Und das soll ein Zeichen für mein Volk sein, das ich nicht kenne?“

„Steck deine Hand in deinen Gewandbausch!“

„Kann’s auch eine Hosentasche sein?“

„Wie du willst.“

„Und?“

„Zieh sie wieder heraus!“

„Und?“

„Und was? Siehst du nicht den Aussatz auf deiner Hand?“

„Du meinst den Dreck unter meinen Fingernägel? Du hättest das auch feiner ausdrücken können.“

„Ich werde alt.“

„Wieder kein Zeichen, oder?“

„Ich hätte da noch ein Wunder als Zeichen bereit! Nimm das Wasser vom Nil und … .“

„Mein lieber Mistkübel. Du bist ja ganz witzig, aber in Geographie tun’ sich halt’ viele schwer. Der Nil ist ziemlich weit weg. Da nehm’ ich lieber das Wasser vom Schotterteich.“

„Hungert dein Volk?“

„Nicht dass ich wirklich wüsste.“

“Willst du über das Wasser gehen lernen? Ich kann dich auch zu meinem Sohn machen. Ich liebe es, wenn meine Kinder (warmes, stummes Lachen) zum ersten Mal über das Wasser gehen. Die ersten Schritte … über das Wasser … .“

„Ehrlich gesagt. Will ich unter das Wasser. Abkühlung und so.“

„Das Wasser teilen. Jetzt ist mir alles klar. Du willst das Wasser teilen, um dein Volk zu führen. Es zu retten vor den bösen, bösen Ägyptern.“

„Ich teile mit dir ein Wassereis, wenn du willst.“

„Jetzt werde ich aber langsam böse!“

„Zorn? Groll? Das volle Programm? Viele, viele bösen Katastrophen?“

„Willst du nicht dein Volk in das gelobte Land führen?“

„Nicht im Sommer, vielleicht im Frühling oder Herbst. Im Sommer will ich nur zum Schotterteich.“

„Ich glaub’ in meinen göttlichen Gehörmuscheln nicht das richtige vernommen zu haben.“

„Wahrscheinlich doch.“

„Willst du Lahme zum Leben erwecken? Kennst du den Salzsäulentrick überhaupt? Blinde sehen lassen, vielleicht? Oder deine Lebensgeschichte von 12 Gefährten, dessen Füße immer gewaschen sind, aufschreiben lassen? Ölbergliteratur? Wissen, wenn dich jemand dem Tode ausliefert? Geschenke bekommen von Königen, die du nicht kennst und die dir eigentlich auch völlig egal sind? Ein paar Hirten necken? Das kann ich dir alles geben.“

„Komm doch mit zum Schotterteich. Stadtflucht im Sommer. Scheiß auf Ägypten und das gelobte Land. Dann lade ich dich auf ein Bier ein und wir vergessen nicht nur alles, sondern auch vieles, was uns wieder einfällt.“

„Ich kann das alles machen, wirklich!!! WUNDER!“

„Schau, das einzige was UNS HIER wirklich wundert ist, warum man die Gastgärten so früh im Sommer zusperrt, warum die Straßenbahnkarten so teuer sind, obwohl wir alles mit unseren Steuergeldern finanzieren, warum der Bierpreis heimlich quartalsmäßig in die Höhe schießt, warum Beziehungen im Schnitt nicht länger dauern als ein paar Jährchen und keiner eigentlich am Schluss irgendwen findet, warum onanieren meist schöner ist als Sex.“

„Habt ihr wirklich den Glauben verloren?“

„Nein. Das war doch alles nur ein Schmäh. Glauben tun’ wir sowieso. Aber es stört uns auch nicht wenn wir mal’ nicht so toll glauben.“

„Dann willst du meine Gaben, die dein Volk erlösen könnten gar nicht?“

„Bring’ mich lieber in zwei Sekunden zum Schotterteich, mach’ mich zum erfolgreichen Literaten und gib’ jedem Menschen ein bisschen mehr Verständnis für den nächsten. Den Rest machen wir selbst. Kannst du das, Mistkübel?“

„Wie schmeckt eigentlich Bier?“

„Bier schmeckt wie … ich lade dich ein.“

„Welches Jahr schreibt ihr hier so.“

„2002.“

„Bin ich zu spät oder zu früh?“

„Man kann meistens nur dort sein, wo man gerade ist. Also nie wirklich zu spät und nie wirklich zu früh.“

„Immer gerade richtig?“

„Eher der Fluch der Gegenwart.“

„Meinst du, dass ich etwas falsch gemacht habe? Ich fühle mich so.“

„Vielleicht.“

„Ist der Schotterteich wirklich drei Tagesmärsche entfernt, mein Sohn?“

„Überhaupt nicht. Mach dich frisch. Ich hol’ das Auto.“

„Ich danke dir. Ich werde dich kreuzigen lassen, egal was du unternehmen wirst. Dann wirst du und dein Volk für immer erlöst werden. Eine Kreuzigung hast du dir schon verdient. Du hast mir gut getan.“

„Ist schon recht. Und früher hast du das alles wirklich gekonnt? Ich meine das Ding mit dem Ast und die Schlange, Wasser teilen und so?“

„Naja, man hat mir damals viel mehr geglaubt als ich gekonnt habe. Aber gut gemeint hab’ ich’s eigentlich immer. Nur gut gemeint.“

„So wie heute.“

„Korrekt. Hab’s nur gut gemeint.“

„Nur gut meinen hilft nicht immer, stimmt’s?“

„Das hat wohl jeder gesehen, oder?“

„Bist’ kein schlechter Kerl. Nur alt und erfolglos, so wie jeder, der alt und erfolglos ist. Mit dir kann man zwar nicht Frauen aufreißen gehen, aber deine Geschichten gefallen mir.“

„Wirklich?“

“Sicher.

„Wirklich?“

„Kennst’ mich doch wahrscheinlich besser als ich dich. Ich … ich … Mistkübel … Ich bin da … .“

An viel mehr kann ich mich nicht mehr erinnern als ich im Krankenhaus aufgewacht bin. Teufelskreislaufkollaps hat man mir diagnostiziert. Man behielt mich noch länger im Krankenhaus. Ein Teufelkreislaufkollaps geschieht nicht alle hundert Jahre. Aber das weiße Gewand, was sie mir gaben, das gefiel mir.

© Michael Luger

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