Trojanische Geiß

Käthe Silbermann wünschte sich nichts so sehnlich, wie einen eigenen Raum zum Arbeiten, was darin begründet lag, dass sie das Büro mit ihren Kollegen Steg und Földerling teilen musste. Steg, brillant im Steuerrecht, war geruchs- und konturmäßig eine Zumutung an ihr ästhetisches Empfinden. Földerling sah seine Hauptbeschäftigung darin, als penibler Tyrann des Ablagesystems zu regieren. Die Kontakte mit den beiden hielt sie allerdings hauptsächlich deswegen streng begrenzt, weil die Kollegen jederzeit zur Produktion schlüpfriger Luftblasen bereit waren.

Zumindest bekam Käthe Silbermann eine völlig neue Perspektive, was den Arbeitsalltag einer Wirtschaftstreuhandkanzlei betraf, als sie hier zu arbeiten begann. Es war kurz nach Neujahr gewesen. In der Kaffeeküche stand noch die teuflisch weihnachtliche Kollekte, Zimtsterne und Nussmakronen. Die Herren gossen der neuen Kollegin Kaffee in eine dezent gemusterte Tasse. Dann übertrumpften sie einander mit Schilderungen der kürzlich erlebten Zeremonien im trauten Kreis. Steg erläuterte sein Gesetz der Untrennbarkeit von Lichterbaum und Gesang, das ihn jedoch nicht daran hinderte, sobald die Kerzen am Baum flackerten, die einschlägige Schallplatte in Gang zu setzen. In den Chor der Wiener Sängerknaben stimmten dann seine Altvorderen ein. „Schön ist das“, sagte er, „sehr schön, so eine Stille Nacht, begleitet von geriatrischem Hauchen.“ Földerling klappte fast weg vor Lachen und Käthe schmunzelte höflich. „Da fällt mir“, hechelte Földerling, „fällt mir ein Witz ein.“ – Er machte eine Pause, um wieder zu Atem zu kommen, fragte dann nach dem Unterschied zwischen einem Impotenten, einem Frigiden und einem Senilen, klärte, nach einem erwartungsvollen Blick in Käthes Richtung, den Unterschied auf und die Herren amüsierten sich noch minutenlang famos darüber, dass der Senile zwar will und kann, aber nicht mehr weiss, was….

„Kollegin Silbermann,“ sagte Földerling vor nunmehr zwei Wochen, „diese Rückschlüsse in Ihrer Expertise sind schlichtweg falsch.“

„Und falsch kommt von Phallus, also phalsch!“ setzte Steg ergänzend nach und griff sich in den Schritt. Zum zwölften Mal an diesem Tag brachen die Herren in unbändiges Gelächter aus. Földerling klopfte sich auf die Schenkel dabei.

Nachmittags, in der Kaffeeküche kam es sodann zu Frau Sansas Angebot. Die Dame vom Empfang war beflissen bereit, als das angeregte Geplauder auf dieses Thema stieß, Steg eine Schicksalsfrage mittels Tarotkartenlegung zu beantworten. Sein Interesse schmeichelte ihr und zu Büroschluss sprach sie bei ihm vor. Die Karten prophezeiten ihm einen Neubeginn im Büro, deutete sie.

„Es wäre ein Fehler, jetzt die ruhige Kugel zu schieben. Nein, Sie sollten aktiv werden, Sie sollten etwas Neues in die Welt setzen, lassen Sie ihre Kreativität zum Zuge kommen! Da will sich etwas materialisieren!“ – Frau Sansa konnte ihr, vor Ergriffenheit über die eigene Deutung wonnetrunkenes Augenmerk, nur zögerlich von den rosigen Aussichten am Tisch trennen. So musste ihr entgehen, dass Steg beifällig nickte, mit der Zunge über die Lippen fuhr, sich Käthe Silbermann zuwendete und in pathologischer Schamlosigkeit bedächtig aussprach, was er dachte: „Aha! Ich werde also eine Bürokollegin schwängern.“

Tagsdrauf bemerkte Käthe Silbermann, mit stillem Grausen seinen Schweiß witternd, dass Steg zum ersten Mal persönlich an ihren Schreibtisch trat, um die Unterlagen, die er benötigte, selbst abzuholen. Durch Wochen kollegialen Zusammenlebens geschult in Erkennung frischer Fährten und Zurückweisung brünftiger Peinlichkeiten, zischte sie unter vorgeblich breitem Lächeln, dass für dieses Entgegenkommen keinerlei Notwendigkeit bestünde und es in Zukunft zu unterbleiben habe. „Schließlich haben wir im Gegensatz zu Ihnen uns alle Zähne geputzt.“, fühlte sie sich bemüßigt, nachzustoßen.

„Ich putze mir auch immer alle Zähne, wenn ich Zähne putze.“, kam es noch in der Sekunde von Steg retour, ehe er sich ungerührt an ihren Tisch lehnte und gelangweilt die von ihr bearbeitete Akte durchblätterte. „Sagen Sie verehrte Frau Kollegin“, setzte er, einer Eingebung folgend fort, „Sie sind doch Jägerin, nicht wahr? – Warum tun Sie das?“

Plötzlich roch Käthe Silbermann Moder, Baumschwamm und Rinde, fiel der Tau auf verfaultes Holz. Sie glaubte um Stegs Haupt herum einen Heiligenschein wahrgenommen zu haben. Er, ebenso wie sie, schienen zu schweben. Ihr Blick, freigefegt von jeglicher Trübung durchschnitt mit einem Mal messerscharf Raum und Zeit. – Die Jagdleidenschaft bricht unerwartet in eines Menschen Gegenwart. Das Jagdfieber ist identisch mit einem fatalen Zustand der Erregung.

„Weil es mir Vergnügen macht.“, antwortete sie, gelassen jetzt. Sie hatte den gut veranlagten Bock, der ihr vor das Fernglas geraten war, angesprochen. Die Jagd, erklärte sie und war nun mit sich im Reinen, sei Sensitivitätstraining: Zu nachtschlafener Zeit so für sich in die Natur zu marschieren, allein mit dem Hund, über den Wäldern seufzt der Wind, in den Tälern hockt der Nebel, Zeitlosigkeit, stundenlang keinem begegnen, ganz bei sich sein und die großen Wahrheiten des Lebens erfahren….

„Na, ich weiß nicht“, nörgelte Földerling vom anderen Ende des Zimmers. „So ein Jagdschein, der bringt doch nichts ohne Eigenjagd.“

Käthe Silbermann beäugte ihn wie einen schlecht gehakelten Bock mit mäßiger Auslage. Natürlich sei es schön, eine Eigenjagd zu besitzen, setzte sie elegant über, doch keinesfalls sei diese eine Voraussetzung für königliches Jagdvergnügen. – Der Hauch eines Schmunzelns fegte über ihr Gesicht. – Geduldig ging sie in Position: „Die Jagd ist prinzipiell in jedem Jagdgebiet möglich. Man zahlt für jeden Abschuss.“

Steg und Földerling verhofften einige Sekunden lang, dann brachen sie in jahrhundertealter Einhelligkeit in brüllendes Gelächter aus. „Man zahlt für jeden Abschuss!“, keuchte Földerling. „Das ist ja wie im Puff. Für ein´ Schuss musst´ zahlen!“

Steg musste sich den Bauch halten und gestand dass er sich fast anmache, vor Lachen. Er verließ das Zimmer; Földerling trabte in seiner Spur schnürend hinterher.

Es wäre nicht richtig, zu behaupten, ein meisterlicher Jagdschütze müsse unbedingt ein sportlicher Typ sein. Es ist vielmehr eine Frage des Talents, des Instinktes und des Gefühls, als der Muskeln. Wer meisterlich jagen will, muss sich gut kennen und sich besonnen bändigen, zügeln, zurückhalten können. Flink schießen mag bei der Schrotjagd gut sein – auf Hochwild geht man mit Konzentration, Ruhe, Übersicht und Routine. Zu unrecht galt das Gewehr Freund Freud als Phallussymbol. Das ist doch kranke Phantasie, die sich als Wissenschaft tarnt! Wer möchte nicht gerechten Lohn nach all der Anstrengung? Welch ein Triumph, nach der Entbehrung doch noch das Ziel erreicht zu haben! Es freut sich, wer im Leben was erreicht.

Käthe Silbermann konnte sich ein leises Lachen nicht verkneifen. Sie schnalzte mit der Zunge. In diesem Revier hatte die Brunft einen ganz besonderen Reiz. In keiner Weise war sie mit jener am Campus zu vergleichen und nicht einmal mit jener in anderen ihr bekannten Bürogemeinschaften. Ständig trieben schwüle Wortfetzen, lautstark und intensiv, das sommerliche Treibhausklima an die Spitze. Kein leichtes Revier, soviel war klar. Es ging zunächst darum, nach allen Regeln der Kunst, die zartesten Töne erklingen zu lassen, zu blatten, dass selbst der ausgefuchsteste Bock dem Lockruf nicht widerstand – und sich dabei selbst schön aus dem Wind zu halten.

Als später Földerling und bald nach ihm Steg den Raum wieder betraten, hatte Steg verkündet, er werde seinen Schreibtisch ganz nah an jenen Silbermanns heranschieben, um ihr künftig ein wenig unter die Arme greifen zu können. Sollte er dies wirklich wagen, dann empfehle sie den Besuch einer Parfumerie, entgegenete Silbermann. Und in den Feierabend abspringend fiepte sie, sie könne ihm für diesen Fall eine ganz vortreffliche Parfumeuse empfehlen.

„Was denn, meine Liebe? Eine Parfumeuse?“ – Steg schreckte sie an, ohne sich zu bewegen. „Und wodurch unterscheidet sich die Parfümöse von der Büro-Möse?“ – „Na, die ist einfach dufte!“ freute sich Földerling. Er und Steg klatschten einander siegreich in die Hände.

Käthe Silbermann lächelte süßlich. Es war wirklich wichtig, die Pirsch-Steige von allem tadellos zu putzen, was Verdacht erregen konnte. Denn verdorrtes Laub und Unkraut knistert. Natürlich kommt es auch vor, dass Stümper zur Jägerei geraten, solche, die meinen, wenn sie mit der Flinte losschießen und das Maul nachher aufreißen, seien sie schon Jäger – dabei haben sie vom Waidwerk nichts verstanden. Marion Kreil war so eine. Unbedacht hatte sie sich über sexuell motivierte Übergriffe zweier Kollegen beschwert. Die Partnerin der Kanzlei, die für solche Beschwerden als Schlichtungsstelle agierte, hatte die Kanzlei allerdings zu diesem Zeitpunkt bereits zu einem einjährigen Sabbatical verlassen und es hatte – obschon keiner vermutete, dass er je würde aktiv werden müssen – einer der verbliebenen Herren interimsmäßig deren Funktion übernommen. Steg hatte, animiert von Silbermanns Jagdbegeisterung und auch um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, erklärt, was er geantwortet hatte, als er dazu befragt worden war.

„Sexuelle Belästigung“, meinte er, „ist doch aus heiterem Himmel nicht feststellbar. Denken Sie doch an die Gämsen im Wald! Die Geiß, die ziert sich doch auch erst einmal, wenn der Bock sie sprengen will. Das ist doch biologisch bedingt!“ Er hob seine Hände angewinkelt wie Pfötchen und schwänzelte, mit gespitzen Lippen zart pfeifend durch das Zimmer. „Erst fiept sie, dann ziert sie sich und am Ende lässt sie den Bock doch an sich `ran. So ist das. Ob sexuelles Werben Belästigung war oder nicht, das ist daher erst post ex feststellbar. In procedere kann von Belästigung gar keine Rede sein. Basta.“

Der mit der Klage konfrontierte Kanzleipartner war selbst passionierter Jäger und amüsierte sich vortrefflich über Stegs Argumentation. Er sprach dennoch eine strenge Verwarnung aus. Vor einigen Tagen lag auf Marion Kreils Schreibtisch, begründet mit Einsparungsmaßnahmen in ihrer Abteilung, die Kündigung mit nächstem Ersten.

Lange Zeit war die noble Passion der Jagd de jure und de facto bestehendes Herrenprivileg. Die furchtbare Grausamkeit mit der gegen Wilderer verfahren wurde, zeigt, wie streng die Aristokratie auf ihrem angemaßten Jagdvorrecht bestand. Ein Erzbischof von Salzburg etwa ließ, erzählt die Chronik, 1539 einen Bauern, der auf seinem Feld einen Hirschen erlegt hatte, in die Haut des Tieres einnähen und von den Hunden zerreißen. In allen revolutionären Zonen der Geschichte schürte auch das Jagdprivileg der oberen Klasse den Hass der unteren.

Als Käthe Silbermann eines Morgens ins Büro kam, saß Steg breitbeinig in seinem Schreibtischsessel und sprach in sein Diktiergerät. Sobald er sie kommen sah, schlug er einen neuen Ton an, während er mit dem Diktat fortfuhr: „….und so nehmen wir im folgenden Stellung, Klammer auf, neunundsechzig, Klammer zu…“.

Sie überhörte kommentarlos seine Geschmacklosigkeit und fokussierte statt dessen eine Whiskey-Flasche, die ihr, wie ihr plötzlich bewusst wurde, bereits öfter in Stegs Nähe aufgefallen war. Wie leichtsinnig von ihm derart zu Holze zu ziehen!

Ihr banges Warten, Gewehr im Anschlag, würde bald ein Ende haben. Sie hatte zahlreiche Mittagspausen dafür verwendet, auf einen Verdacht hin in Stegs Parteien-Ordnern zu recherchieren. Dank Földerlings Ablagesystems war sie bald fündig geworden. Sie hatte einen Artikel über mittelbare Täterschaft der Steuerhinterziehung durch Täuschung Steuerpflichtiger in einem einschlägigen Fachmagazin publiziert und als Beispiel eine Unternehmung angeführt, die sie zwar nicht namentlich genannt hatte, die aber ob ihrer Einzigartigkeit am Markt von Brancheninsidern leicht identifiziert und von den Kanzleipartnern als alter Klient erkannt werden würde. Langsam wanderte das Fadenkreuz ins schwarze Ziel.

Ebenso wie die Spielleidenschaft kann die Jagdpassion eine Existenz vernichten. Da wie dort offenbaren sich verborgene Wesenszüge eines Menschen. Und zuweilen glaubt einer, Jäger zu sein und kehrt erlegt aus dem Wald zurück.

Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Bekamen Steg oder Földerling Wind, war die am Vortag erschienene Ausgabe der Fachzeitung aus dem Verkehr gezogen und der ganze Zauber vorbei. Silbermann entschloss sich also zum Schuss. Unter einem Vorwand sprach sie in die Chefetage vor und da lag auch schon ihr Artikel aufgeblättert auf dem Tisch. Es gehörte zu den delikatesten Aufgaben ihres jungen Berufslebens, die Herren davon zu überzeugen, dass die Publikation in dieser Form notwendig und unvermeidlich gewesen sei, ja als eine Veröffentlichung jener Kanzlei, in welcher der Straftatbestand aufgetreten war, als Transparenzbonus für die Eigenwerbung genutzt werden könne, indem der stichhaltigen Klage konsequent gefolgt würde. Der Ärger war groß und für Sekunden schien der Schuss nach hinten loszugehen. Dann aber fraß sich das Fadenkreuz doch eine Handbreit über das Blatt, als Silbermann gefragt wurde, wo Steg sich im Moment aufhalte. In der Kaffeeküche, wie meist, antwortete sie in aller Unschuld. – und ließ fliegen.

Die zur Beurteilung stehende Tat bezog sich auf einen Steuerschaden in großem Ausmaß. Der Schuss hatte Hochblatt gesessen. Stegs Fall war von Wirtschaftsmagazinen und Zeitschriften für Steuerstrafrecht aufgegriffen und eingehend behandelt worden. Der Gesetzgeber schuf daraufhin eine neue Strafvorschrift zur Überführung dieser neuen gewerbsmäßigen Steuerhinterziehung, die bisher scheinbar unproblematisch möglich gewesen war. Die tatbestandliche Handlung setzte lediglich unvollständige Angaben voraus und konnte durch einen Dritten begangen werde, der nicht Schuldner des Steueranspruchs war, sich vielmehr nur des Steuerpflichtigen als Werkzeugs bediente.

Innerhalb der Kanzlei wurde von einer bedauerlichen Irrtumsherrschaft gesprochen. Obwohl eine Klage zulässig gewesen wäre, barg sie doch erhebliches Risiko für die Reputation der Kanzlei. Der Gefährdung von Ruf und Umsätzen wurde mit einer außergerichtlichen Einigung begegnet. Steg wurde die Kündigung aus dem Arbeitsverhältnis nahegelegt. Földerling war vergrämt und entschlossen mit Steg in die Selbständigkeit zu wechseln.

Käthe Silbermann saß etliche Interviews und Publikationen später in ihrem eigenen Büro. Sie hätte sich einen Kaffee bringen lassen können, aber sie bevorzugte weiterhin die Kaffeeküche als Ort der Schonung und Pflege biologisch sinnvoller Bestandsstrukturen. Es erwies sich durchaus als nützlich derart einen Überblick über die interne Kommunikation und den fachlichen Nachwuchs zu wahren.

Und sie erwies dem Aberglauben ihre Reverenz. Es war ihr zwar nichts von imposanter Größe oder Form, nichts von amuletthafter Zierlichkeit, weder Gamsbart noch Adlerflaum geblieben, von dem sie hoffen konnte, dass die Kraft des Erlegten auf sie übergehen werde. Aber in einem Regal des Büros stand unauffällig eine Flasche Oban, die Steg zurückgelassen hatte.

(c) Ursula Kiesling 2003

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