Wortlose Erzählung

Erzähl mir vom Krieg! Bettelt der Junge. Erzähl vom Krieg!

Kopfschütteln, verständnislos. Sie beugt den rheumatischen Rücken, öffnet eine Lade, nimmt etwas Graues heraus, kramt in einer Schachtel, entnimmt einen Schlüssel.

Das Graue. Eine Aufziehfigur, in Filzuniform, schwarzer Gürtel um die Taille, überm Stehkragen ein rosiges Bubengesicht, blaue Augen, oben drauf ein Stahlhelm. Hinten am Rücken passt der Schlüssel auf einen kleinen Stift. Sie dreht den Schlüssel einige Male. Die uniformierten Ärmchen heben und senken sich, schlagen winzige Schlägel im Takt auf die umgehängte Trommel: Ram tatata tam, ram tatata tam, ram tatata tam. Die schwarzen Blechstiefelchen vibrieren, der Soldat tanzt auf der Tischfläche. Ram tatata tam, ram tatata tam.

Der Krieg. Sie senkt den Blick, denkt zurück. Zuerst die Kartenwirtschaft, Bezugskarten für Mehl, für Zucker, Fett und Fleisch. Überhaupt für alles. Kaum etwas einfach zu haben. Die Kinder bei ihr in der Küche, dem einzig warmen Raum. Die Gehschule, das Blechspielzeug, der Blechsoldat.

Ram tatata… – die grauen Arme zucken, bleiben in der Luft reglos stehen. Sie greift zum Schlüssel, um neuerlich, da nimmt ihn ihr der Junge aus der Hand, will selber machen. Nicht in die falsche Richtung drehen, warnt sie, sonst ist er kaputt. Vorsichtig hantiert er am Schlüssel, stellt den Grauen ab, sieht ihm beim Trommeln zu. Erzähl! Bittet er. Erzähl vom Krieg.

Sie wendet sich ab, holt ein Brettspiel aus der Lade, deutet auf die Bilder: Feldmarschall, General, Oberst, Major, Leutnant, Hauptmann, Mineur… Sie lehnt sich zurück, schließt die Augen, faltet die Hände.

Ihr Mann war schon im ersten Krieg hingerannt, hatte sich freiwillig gemeldet, wie alle damals, gleich nach der Schule, er aber der ungeliebten Stiefmutter wegen. Im zweiten Krieg war er als Offizier zur Wehrmacht eingezogen worden, als Major, Einsatzgebiet Jugoslawien. Sie mit den Kindern in der Stadtwohnung. Einquartierungen, fremde Leute. Jeden Tag mehrmals die vier Stockwerke auf und ab, die Einkäufe schleppend, die Kleine am Arm, obwohl im Haus ein Lift. Jahrzehnte später, Friedenszeit schon längst, hatte sie einem Fremden im Stiegenhaus gesagt, dass die Benützung des Liftes dem Hauseigentümer vorbehalten war. Daraufhin ein empörter Artikel in der städtischen Zeitung, sie namentlich nennend, als Beispiel für Schikanen von Hausbesitzern gegenüber ihren Mietern. Wenige Tage danach ein anonymer Leserbrief: Die Genannte solle sich nicht zu laut bemerkbar machen, sie sei doch damals! – So, als habe sie Dreck am Stecken. Sie schüttelt den Kopf, unwillig, bedeckt die Augen mit der flachen Hand. Ärgert sich noch heute. Bald nach Erscheinen des Artikels war sie aus dem Haus ausgezogen.

Sie war damals im Krieg Hauswart gewesen. Keiner hatte es machen wollen. Geduckte Köpfe überall, und sie von Natur aus ungeduldig. Die neuen Verordnungen verlangten Hauswarte für jedes Haus. Wegen der Schutzräume, wegen der zu erwartenden Luftangriffe.

Die Luftangriffe. Der Major hatte seinen Adjutanten geschickt. Plötzlich stand ein offener Pritschenwagen vor dem Haus, Pferde davor. Sie solle die Sachen packen, die Kinder, schnell machen. Sie fuhren aufs Land, erst Richtung Süden, nach wenigen Tagen weiter, nun in den Norden. Die Partisanen, hieß es, unberechenbar. Tag für Tag Quartierwechsel. Die kleinen Kinder, die Angst beständiger Begleiter. Höchste Anspannung, zuletzt zuviel davon, die Knie weich, zusammensackend, der Kopf den rasenden Gedanken überlassen, Tränen unbeherrscht, die Stimme der schreienden Seele geliehen.

Sie wendet sich dem Jungen zu, dem Jetzt. Nie falsch herum, sagt sie, betrachtet den trommelnden Soldaten.

Darf ich? Fragt der Junge, nimmt nun zögernd ein weiteres Brettspiel aus der Lade. Die Luftwaffe. Ein Geschwader blauer Bomber und Jäger. Die Gegner rot. Das spielbrettgroße Zielgebiet unterteilt in kleine Quadrate. Sie sieht ihn vorsichtig die winzigen Flieger in Stellung bringen, dreht sich um, kramt neuerlich in der Lade, findet das Gesuchte. Eine andere Aufziehfigur. Gärtnerschürze, lachendes Gesicht, Fliegenpilzhut. An den lang ausgestreckten Armen hält sich, zum Sprung angewinkelte Beine, ein Wichtelmann fest. Aufgezogen dreht sich der Gärtner im Kreis, hebt leise schnarrend die Arme, wirbelt den Kleinen hoch und setzt ihn wieder ab. Auf und ab, auf und ab. Possierlich dreht sich das Paar am Tisch.

Pilze suchen. Spaziergänge im Wald. Jubelnd die Kinder. Endlich so etwas wie Sicherheit. Eine Kirche, ein Gasthaus, einige Bauernhöfe. Sie in Untermiete. Schwarzbeeren, den ganzen Sommer lang. Und der Duft von Schwarzbeerstrudel. Die Gipfel rundherum eine herzergreifende Einladung. Almwanderungen. Der Schnee, früh schon, im Herbst. Im Frühling Gerüchte vom nahenden Feind. Die wärmende Sonne, die erblühenden Wiesen.

Sie hatte vor dem Haus Wäsche aufgehängt, da war die Nachbarin vorbei gerannt. Mach schnell! Hatte sie gerufen. Mach schnell, weg hier, die Russen kommen! Und sie? Hatte in Seelenruhe das nächste Teil aus dem Wäschekorb genommen, hatte sich aufgerichtet und es mit Wäscheklammern an der Leine befestigt. Nein. Nein, hatte sie geantwortet. Renn du nur, ich geh hier nicht mehr weg.

Es war meine schönste Zeit, denkt sie, meine schönste Zeit. Ihr Blick durchs Fenster, fern. Der graue Soldat. Plötzlich war er in ihrem Zimmer gestanden. In Wehrmachtsuniform. Bist du wahnsinnig? Hatte sie ihn angefahren. Hatte vom Bauern einen Anzug besorgt, hatte seinen grauen Mantel, die Hose, sein ganzes Gewand unters Bett geschleudert. Als sie im nächsten Moment aus dem Fenster sah, fuhren draußen Geländefahrzeuge vorbei, marschierten die Amerikaner im Ort ein.

Er hatte sich trotz der Partisanen und allem was man hörte bis zu ihr durchgeschlagen. Die Partisanen hatten ihm einen Passierschein ausgestellt. Sie hatten ihn gehen lassen, weil er anständig war. Es hat auch andere gegeben, sagt sie.

Wie bitte? fragt der Junge.

Es hat auch andere gegeben, wiederholt sie und schaut dabei den grauen Soldaten an.

Oh! sagt er und nickt.

(c) Ursula Kiesling

Oktober 2003, Wehrmachtsausstellung Dortmund

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