Serpentina, das Schlänglein

Serpentina, das Schlänglein

Vor vielen, vielen Jahrhunderten, eigentlich nur vor vier Jahrhunderten und ein paar Dekaden, gab es einmal in einem weit entfernten, aber bereits sehr modernen Königreich wenig überraschend einen König und eine Königin. Der König war allerdings ein gar aberwitziger Typ und die Königin einfach nur schwanger.

Eines Tages, als die Sonne den widerwärtigen Morgennebel mit ihren Strahlen fortgepeitscht hatte und in das Königreich reingähnte, kam ganz zufälligerweise eine alte Zigeunerin beim Palast vorbei, die nicht nur für ihr verführerischen Gulasch, sondern auch noch für ihre Seherei und Weissagungen bekannt war. Der König, der ein Faible für alles Lustige und Weissagungen hatte, ließ die Zigeunerin rufen, und sie kam.

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Der Tod der Radfahrerin

Vor dem Gasthof stellt Rosa ihre Reisetasche ab. Mit einem Taschentuch wischt sie sich die Stirne trocken. Schweiß rinnt von ihren Achseln. Sie stützt sich am Torbogen ab. Der Stein fühlt sich bröselig an.

„Ich werde hinein gehen“, sagt sie.

Sie bückt sich nach der Tasche, die Schulter schmerzt vom Gewicht, sie öffnet die Tür und bückt sich wieder, weil der Torbogen so niedrig ist. Sie schaut sich um. Über ihr rissiges Holzgebälk. Unter ihr Kachelboden. Vor ihr ein Tischchen mit einer Holzfigur: Eine Frau, die Knie zur Brust gehoben, der Kopf nach vor gebeugt, Hände und Oberarme an den Kopf gepresst. Rosa berührt den Rücken der Gekrümmten.

„Sie wünschen?“, sagt jemand.

Rosa erschrickt.

„Sind Sie bei der Gruppe?“, fragt ein Mann.

„Ja.“

„Die Umweltgruppe?“

„Nein.“

„Die Familienaufstellung?“

„Nein, die Schreibgruppe.“

„Welche?“

Rosa nennt den Namen der Literatin.

„Ah, bei der“, sagt der Mann. Und dann: „Wir haben kein Doppelzimmer mehr, das Sie mit jemandem teilen könnten. Nur mehr Einzelzimmer. Ist leider teurer.“

Geld, denkt Rosa. Als wäre das noch wichtig. Der Mann führt sie eine Treppe hinauf, die Reisetasche muss sie tragen. Der Schlüssel, den er ihr in die Hand legt, ist so lang wie ein Suppenlöffel, und das Schloss zu ihrem Zimmer ist älter als Rosas Mutter.

Der Nachmittag ist noch etwas sonnig. Rosa geht im Garten umher und macht Fotos mit ihrem Handy. Vielleicht darf sie die Bilder mitnehmen. Erinnerungen vom letzten Tag. Aber auch das Handy werden sie ihr nehmen. Sie könnte ihren Freund anrufen. Und was sollte sie ihm sagen? Alles? Was könnte er tun? Nichts.

Sie denkt daran, dass sie mit ihm glücklich ist.

Glücklich war.

Eigentlich.

Bei Sonnenuntergang das gemeinsame Abendessen. Die Teller werden aufgefüllt. Jemand sagt Mahlzeit, Rosa greift nach der Gabel. Jemand erzählt Rosa irgendetwas. Rosa legt die Gabel zur Seite. Sie greift sich an den Hinterkopf. Dabei hatte sie noch so viel vor im Leben.

Zum Beispiel.

Dies.

Oder das.

Sie denkt an ihre Schwester. Die mit Haus und Mann, aber nicht an die, die jetzt durch Asien zieht und ab und an Postkarten schreibt, von Orten, die Rosa aus den Nachrichten kennt, wenn es wieder einmal Unruhen dort gibt und sich Mutter Sorgen macht.

Dann die erste Sitzung. Die Literatin kommt in den Saal, unter ihrem Arm ein Stapel Bücher. Feuerrotes Haar mit dunklem Ansatz. Die Literatin schreibt ihren Namen auf das Flip Chart. Malt eine Blume über dem I. Der Filzstift quietscht. Eine Minute lang. Wegen der vielen Blütenblätter. Die Literatin redet über das Ausschmücken von Texten. Weiblichkeit und Fülle in die Literatur bringen. Adjektiven den Raum geben, den sie verdienen. Duftende Sprache, meint sie. Und bunte Wörter. In der Vorstellungsrunde sagt Rosa, dass sie mit dem Schreiben angefangen hat, um sich über Dinge klar zu werden. Die anderen schauen sie an. Draußen klimpert ein Glockenspiel im Wind. Jetzt spricht wieder die Literatin. Die erste Aufgabe. Wir suchen Adjektive, die uns beschreiben. Rosa fragt sich, ob Rot ein Adjektiv ist.

Auch ein Mann ist dabei. Nachher stellt er sich zu Rosa. Sie war elf, als er geboren wurde. Was er denn bei Frauenliteratur zu suchen hätte.

„Ich will einen großen Frauenroman schreiben“, meint er.

Er schaut Rosa an.

„Frauen verstehen?“, fragt sie.

„Ja“, sagt er. „Frauen über dreißig.“

Sie sprechen über Literatur. Dann gehen sie auf sein Zimmer. Sie klettert auf das Hochbett, er stützt sie dabei, mit seiner Hand auf ihrem Po. Kondome? Das ist doch auch schon egal. Aber er hat welche. Er bemüht sich. Er bindet sogar ihr die Augen zu. Er rollt sie auf den Bauch, legt sich auf sie, seine Hände unterfassen ihre Brüste. Sie sagt, du kannst mir richtig wehtun. Er bemüht sich.

Als es vorbei ist, richtet sich Rosa auf, stößt mit dem Kopf an die Zimmerdecke. Sie krümmt sich, zieht den Kopf zum Kinn, umfasst ihren Schädel. Er berührt sie, sie schüttelt sich. Als sie wieder denken kann, nimmt sie die Augenbinde ab, steigt die Leiter hinab, sammelt ihre Sachen ein, geht in ihr Zimmer, wäscht sich das Gesicht. Die Reisetasche gepackt, die Hände in den Schoß gelegt, die Haare aus der Stirn gestreift. Das Fenster offen. Der Wind hat nachgelassen, das Glockenspiel schweigt. Um vier Uhr morgens ist es soweit. Es klopft. Rosa erhebt sich. Zwei Männer.

„Wir sind wegen dem Unfall hier“, sagt der eine.

„Wir sind wegen des Unfalls hier“, sagt der andere. „Gestern Nachmittag.“

Sie gehen die Treppe hinab, vorbei an der Gekrümmten aus Holz, dann durch den steinernen Torbogen hinaus ins Dunkle.

„Ist das ihr Wagen?“, fragt einer. Mit seiner Taschenlampe beleuchtet er die Kühlerhaube. Etwas wird sichtbar.

(Entstanden anlässlich der Schreibwerkstatt mit Robert Schindel in Langschlag, September 2005. Die Aufgabenstellung lautete: Einen Text zum Thema „Tod einer Radfahrerin“ oder „Tod eines Radfahrers“ zu schreiben. Dabei durfte der Tod des Radfahrers nicht expliziert werden (Aussparung). Der Schlusssatz war ebenfalls vorgegeben.)

Haiku

Eins:

Vor dem Glashaus liegt
ein Stein, doch nutzlos ist er,
zu schwer zum Werfen.

Zwei:

Drei kleine Haikus
spazierten auf der Straße,
Lastauto und aus.

Drei:

Ich schreibe Haikus
über Meere und Fische:
Hans Hass gab Hai Kuss.

Gehört am 11.9.2005 um 9:10 im Gasthof Wurzelhof in Langschlag bei Großgerungs:

Zur Nazizeit stand
dort nicht die Kaiserbüste?
Die? Steht immer noch.

(Die Haikus entstanden anlässlich der Schreibwerkstatt mit Robert Schindel September 2005. Die Aufgabenstellung lautete: Schreibe Haikus)

Chlorid

Draußen der Nebel, und ich sitze seit viereinviertel Stunden auf meiner blauen Couch. Es dämmert. Ich höre mich atmen.

Ich mag diese Couch. Die Lehnen sind schräg. Man kann sich bequem nach hinten lehnen. Vor viereinviertel Stunden habe ich die Handflächen neben meine Oberschenkel gelegt. Dort sind sie immer noch. Wenn ich etwas bewege, dann hauptsächlich die Augen und nur wenig den Kopf.

Das Wohnzimmer ist geräumig.

Links die drei Fenster. Keine Vorhänge, keine Jalousien. Ich habe in der Regel nichts zu verbergen.

Rechts die Wohnküche.

Weiße Kästen, alles sauber. Ich habe in der Regel nichts zu kochen.

Hinter mir eine Wand mit dem gemalten Bild. Wenn ich mich umdrehte, könnte ich es sehen. Aber das tue ich lieber nicht. Vor viereinviertel Stunden ist es noch da gehangen. Wenn es jetzt fort wäre, es würde meine Situation verkomplizieren. Darum denke ich mir, dass es noch da ist.

Über mir eine weiße Decke.

Unter mir, zwischen Boden und Fußsohlenhaut, ein Teppich.

Vor einigen Wochen hat sie mich besucht. Sie hat gelacht. Und dann hat sie gesagt, du wohnst schon so lange da, es sieht aber so unbewohnt aus, wann kaufst du dir Möbel. Da habe ich mir diesem Couchtisch besorgt. Dreifüßig, mit der Glasplatte, die auf drei Saugnäpfen ruht.

Ich höre das Atmen.

Neben mir, auf der Couch, dort, wo ein anderer Mensch Platz finden könnte, steht das Telefon. Es hat geläutet, ich bin aufgewacht, ins Wohnzimmer gewankt und habe mich hergesetzt. Der Anrufbeantworter hat sich eingeschaltet. Mein Ansagetext. Dann schweigen. Atmen. Der Anrufer offenbar verwirrt, nicht mit mir persönlich zu sprechen.

Dann hat er etwas gesagt. Seine Stimme hat im Zimmer gehallt. Ich habe den Hörer nicht abgehoben, denn die Stimme hat gleich geklungen wie die von der Ansage. Und ich bin sicher, dass ich die Ansage selbst aufgesprochen habe.

Die Stimme hat gesagt: „Ich bin am Sterben.“

Aufgelegt. Zweimal das Tuten des Telefons.

Stille.

Seither blinkt der Anrufbeantworter wegen der neuen Nachricht, und ich sitze hier. Die Handflächen neben den Oberschenkeln am weichen, blauen Couchüberzug.

Ich denke mir etwas. Nämlich, dass die Stimme nur aus einem Traum stammt. Dann denke ich nichts mehr. Spüre nur den weichen Möbelstoff auf den Handflächen und den Teppich auf den Sohlen. Früher habe ich über vieles nachgedacht. Aber da hatte ich noch Pickel. Die sind dann verschwunden.

Das Atmen wird lauter. Es ist fremdes Atmen.

Ich schaue auf die Saugnäpfe, auf denen die Glasplatte ruht. Wenn ich die Platte hebe, löst sie sich dann vor den drei Tischfüßchen? Ich beginne mich zu bewegen, um das auszuprobieren. Das Glas haftet nicht. Ich lege das Glas auf den Teppich, lecke die drei Saugnäpfe ab. Dann lege ich die Glasplatte wieder darauf, anpressen und warten. Zum Warten setze ich mich wieder auf die Couch. Es ist eigentlich alles so wie vorhin. Bis auf den Speichel zwischen Saugnäpfen und Glasplatte. Der Anrufbeantworter blinkt.

Das fremde Atmen will ich nicht mehr ertragen.

Ich stehe auf, mache vier Schritte zur Wohnküche und ich öffne einen Kasten. Da sind die weißen Plastikflaschen eingeordnet, mit je einem Liter Chlorid. Ich achte darauf, dass ich immer zehn habe. Man weiß ja nie, es kann schlimme Nächte geben. Chlorid erspart die Hausapotheke. Denn wenn alles sauber ist, gibt es keine Krankheit.

Ich schraube eine solche Flasche auf. Entleere sie in den Ausguss. Ein Aufschrei. Weißer Schaum dringt heraus, ich weiß, der Abfluss ist seit langem verstopft. Das Schreien verebbt, geht in Stöhnen über. Ich lege die Hand auf die Nirostaabwasch, spüre das Zittern. Wie von einem Fieberkranken mit Schüttelfrost. Drehe den Wasserhahn auf, Entspannung, das Zittern lässt nach.

Ich weiß, was da im Abfluss fest sitzt. Amorphe Masse, fett geworden. Es hat schwarze, glitschige Haut. Ich kenne es aus diesen Träumen, von denen ich nicht erzählen werde. Wenn die Säure seine Haut zerfrisst, gibt es Ruhe. Für eine Weile.

Ich könnte jetzt schlafen gehen.

Draußen der Nebel. Nach meiner Uhr müsste die Sonne schon aufgegangen sein. Nein. Stattdessen ein Grauschleier, nur gut, dass die Fenster zu sind, sonst würde der Nebel eindringen, sich über mein Gesicht legen und mich ersticken.

Ich sollte die Wohnung verlassen.

Vorher gehe ich noch zur Toilette. Aus Gewohnheit. Vergesse, dass ich nicht hinein kann. Denn die Türe ist von innen abgesperrt, noch immer.

Dass ich nicht ins Klo kann, ist kein Problem. Ich benutze eben das Waschbecken, ich schaue mir dabei gerne ins Gesicht, ob ich noch pickelfrei bin. Zwei Tage, nachdem sie sich eingesperrt hat, habe ich den Türspalt zugeklebt. Mit Isolierband. Wegen des Geruchs. Nach einer Woche ist etwas durchgesickert. Unter der Türe. Also habe ich Fensterkitt verwendet.

Seither keinen Damenbesuch mehr in dieser Wohnung.

Ich war gezwungen, meinen Stuhlgang anders zu organisieren. Dafür habe ich mir die Verschweißmaschine angeschafft. Eine praktische Sache für Lebensmittel, die man luftdicht in Gefrierbeutel verschweißen will. Aber ich habe in der Regel keine Lebensmittel. Und auch keine Gefriertruhe. Darum verwende immer zwei Gefrierbeutel, doppelt hält besser, denke ich, wegen des Geruchs. Die Plastikbeutel schlichte ich über den Chloridflaschen ein.

Ich verlasse die Wohnung.

Ich gehe in die Garage.

Starte meinen Wagen, kontrolliere, ob die Klimaanlage auf Umluft eingestellt ist.

Fahre durch die Stadt, parke, steige aus, halte mir ein Taschentuch vor das Gesicht, wegen des dichten Nebels.

Gehe in ein Haus, in den zweiten Stock. Ordination Dr. Müller steht hier. Ich läute, die Empfangsdame schaut mich an.

„Was haben Sie?“, fragt sie.

„Müde bin ich“, antworte ich.

„Ach, warum denn?“

„Heute habe ich mich mitten in der Nacht angerufen. Das hat aufgeweckt.“

Sie kichert, ich gehe durch das Wartezimmer, wo schon etliche Frauen sitzen, ich grüße, gehe in das Behandlungszimmer, ziehe mir einen weißen Mantel über das Sakko und lese die Krankengeschichte der ersten Patientin. Ich bitte sie herein, eine junge Frau. Halbjährliche Untersuchung. Ich sage ihr, sie soll sich frei machen, wir machen jetzt einen Abstrich, das kennen Sie ja. Sie setzt sich auf den Stuhl, die Beine hoch und gespreizt, sie erzählt mir unaufgefordert von ihrer letzten Beziehung. Frauen erzählen mir immer viel. Sie vertrauen mir.

Ich werfe einen kurzen Blick auf ihr Geschlecht, dann ziehe ich mir Gummihandschuhe an und öffne den Kasten, wo ich die Chloridflaschen eingeordnet habe.

Niels mehr Naomi, Oda?

Es ist nicht wirklich ein Rainer Maria Zufall, dass plötzlich alles Andreas sein soll. Ich dachte zunächst, dass mein Bewusstsein mir einen Patrick spielte, und ich bin noch immer ganz geschüttelt von dem, was ich da heute Früh in der Zeitung lesen hab müssen. Nichts ist mir mehr Clara.

Ich verließ heute meine Bettina um halb Sixtus und traute meiner Iris nicht, als auf der Titusseite der „Neubert freien Presse“ stand: „Staat sagt: Niels mehr Naomi, Oda?“ Wir dürfen keine Naomis mehr verwenden – Niels? Das ist keine Kleinigkeit, das ist Rudimentär. Gut, unsere Giselschaft und Sprache ist in den letzten Jahren von Naomigebungen überflutet worden. Allerdings ist das ein ganz Normaner Trent, genauso, wie vor Jahrzehnten unsere Sprache von Angelas überschwemmt worden wurde, und davor von Franzis. Wir haben das alles ganz Gutbert überlebt. Aber plötzlich Austin mit all den schönen und unschönen Naomis? Plötzlich ein Bantus auf jegliche Verwendung von Naomis? Plötzlich Goldiestrafen, wenn man nur an Naomis denkt!? Absolute Kurtsichtige KontRoland? Das ist Hartmann!

Wie soll ich denn mein All-rund-herum plötzlich nennen, damit mich jeder versteht, wenn ich keine Naomis mehr verwenden darf? Vergessen sind ja die Olganale, vergessen, wie man alles früher nannte und schrieb. Sven der Saat unbedingt will, dass wir keine Naomis mehr verwenden dürfen, dann ohne Michi. Ich will meine Kebabette noch immer am Jimbiss essen, meinen Johnnie Walker an einer Barbara trinken, mir meinen SonnenBrandon noch immer im Sindbad holen, mein Glück in der LottokollektUrsula versuchen, mir Medizin von der ApotHeike holen und im SuperMark an der Kassandra mein tiefgefrohrenes Gordon-bleu zahlen. Und wie soll man das den Lenas in der SchUlrike beibringen, die da alles wieder umlernen und umlehren müssen? Da kann die SchUlrike gleich ihre Doris schließen! Und darf ich jetzt keinen Roman Oda Ramona mehr lesen?

Hias meine Botschaft!

Das ist der TodeszungenMarkus für eine moderne Sprachkultur und Giselschaft, die sich halt der Naomis angenommen hat. Mickrig und Minni kommt mir das Ganze vor. Man kann doch einfach nicht Pascalisch alle Naomis verbieten! Dann werden wir ja Robertisiert. Maximilian hätte ich mir vorstellen können, dass Manfred darüber debattiert. Aber alles so Ernst und Willibald und ohne jemanden zu fragen? Was kann Rainer sein, als die Gedanken und Freiheit so auszudrücken, wie es einem gefällt? Josomirgott!!!! Niels, Nina!!!!! Ich lasse mich nicht Benediktieren!!!!! Nein, Anke!!!

Megan die hohen Herren denken, was sie Mechthild, aber da müssen sie sich den Konrad von einem Gescheiteren holen. Horst du schon einmal gehört, dass man über das Volker einfach so bestimmen kann? Kent irgendwer eine Bundes-Regina in den Hauptstädten der Welt, die sich heute so was Traudel? Das war früher, das war einst. Da müssen sie schon Freda aufstehen. Wir wollen doch alle nur Fridolin und Gottfried; und dann das! Aber was soll man schon machen, als kleiner Burkhard? Nadja. Simon wir uns ehrlich, viel geht da nicht. Da steht man dann am Glenda vor dem Abgrund der Staatspflicht und muss sich entscheiden, spring ich, Oda Nick? Und springt man, dann kommt man hinter Brigitta. Magdalena denken was er/sie will, aber Karina schert sich um den kleine(n) Mann/Frau.

Margot! Was kann ich tun? Nidger mit dem Staat – schreit’s mir aus der Brust! Aber aus der Notker werden die besten Idas geboren. Aber ich bin Alaina zu schwach und zu Atlas. Ich möchte einfach nur Heidi und in Frieda gelassen werden. Würde mich aber im Kampf gegen diese Parteidiktatur jemand unterstützten – Tanja!!! Schluss mit Heidi und Frieda! Sofort wär ich dabei. Aber Alaina ist das alles ein Moritz. Und ich war mit Mut immer Percy. Ich glaube, ich kümmere mich um dieses Problem Petra. Nein, nicht Petra, dass wär zu Peter!

Aber ich Rene mir sicher nicht mehr Alaina die Füße Kunigund. Ich, Nick!!! Mir wird da der Sigismund verschlossen bleiben. Vielleicht braucht man da schon einen wackeren Silvester, um ein neues Zeitalter der Freiheit zu beginnen. Doch ich bin gerade mal der kleinste Tyler jedes Bruches mit Traditionen. Aber Tess kann doch nicht wahr sein!!! Mir scheint, ich bin der letzte Thilo, der für Freiheit kämpfen will.

Was Trent uns, junge, wilde Geneva-ration? Ich brauche gerade EUCH. Hört doch auf durch stupide Fernsehkanäle zu Seppen! Georg ein Risiko ein! Ich war auch ein-Marlene so jung wie ihr, lange Zeit Trevor. Es dreht sich alles nur um eine Frage, die geschlechts- und zeitlos ist: Toby or not Toby! Wie Veit wollen wir uns Norbert unterdrücken lassen? Wendy Stunde geschlagen hat, und Sven wir uns verbünden würden, dann schlagen wir zu! Ich brauche Mut, genauso Wido! Willie das, musst du das auch wollen! Sei ein Freund der Freiheit! Wir werden unseren Kampf nicht mit Darleen bezahlen, sondern mit Blut. Andy Tyrannei und Unterwerfung will und kann ich mich nicht erinnern! Brent der Hut, braucht man eben Blut und Mut! Da braucht man im Gemüt eine gewisse Constanze. Klingt das alles zu Dick und aufgeBlasius? Nadja. BeEugen wir die Fakten: Die meisten denken, alles ist Ewald und ein Anders sollte das machen. Jedem liegt die Initiative Fernando; und sie Hadrian, weil zu Paul. Ibrahim fühlen sie dieses Verlangen nach Freiheit – tun aber nichts. Igor – sie versagen und fühlen sich miserabel.

Aber wir, wir edlen Wilden – ihr könntet mit mir können – seid doch alle Edeltraut! Aber eigentlich ist mir Blut zu blöd und deshalb machen wir das ganz Gerlinde. Sonst sperren sie uns hinter Gitta. Herta und fester im Herzen zu werden ist klug. Das Herz darf nicht Jill-en. Gwen das Herz gewinnt, ist uns aller emotionaler Reichtum sicher. Sperren wir diese Bundes-Regina in Kate-n!!!! Kasimir kann mir sagen, dass das nicht funktioniert. Manuel zu reagieren und Blut zu vergießen, ist falsch, der Gedanke und das Gefühl zählen. Ja, es stimmt, wir brauchen schon ein Miriam, Eva-tuell Geld (aber wer ist schon Richard?), dass das gelingt, aber Melinda gesagt, du brauchst nur DICH, um alles zu schaffen. Sonst verläuft alles in Sandra.

Hoch heben wir unser mit Rainstem Wein gefüllte Tassilo und schwören uns Perpetua, dass Phil geschehen muss, damit wir unsere Ziele erreichen! Ich will Naomis!!!!! Das würde mich Felix machen. Das ist jetzt nicht der Placido und die Zeit, um Zweifel zu hegen. Ihr braucht Stefan-vermögen. Ich will kurz, Prikt und Prokop euer Einverständnis. Habakuk dich in den Spiegel! Sebald ihr euch entschieden habt, stürmen wir los im Naomi der Freiheit! Sam-a Revolution, Oda Nick? Jack it out!

Sicher schaffen wir das – Nona, Nora, net!

Ich würde 100 Liter FreiPia zur Verfügung stellen, wenn wir eine Damianstration Balduin organisieren könnten.

Text von Helmut

Nachts auf der Reeperbahn

Satt war ich davon nicht.
Eineinhalb Sushi, und ein paar mickrige japanische Spießchen. Ein paar Bier in spießiger Runde. In-Treff nannten die das.
Ich zog los. Hotelwärts. Auf der Suche nach etwas Essbarem jeden Umweg in Kauf nehmend. Die Seitenstraße aufwärts. Dorthin, wo mehr Licht war. Auf das Rot zu und das Grelle.
Burschi, komm rüber, rief eine Stimme von drüben, von der anderen Straßenseite.
Hast was zu essen? rief ich zurück.
Ein wenig fühlte ich mich geschmeichelt durch das Burschi, aber ich ging doch nicht. Und sie kam nicht. Es gab hier klare Zonen und Straßenseiten, schien es.
Mitten drin war ich nun im Licht. Leuchtreklamen, Lichtkörper, Funkeln und Blitzen. Versprechungen und Verlockungen. Torkelnde Gestalten, lachend, suchend. Eingemummte Körper in Torbögen. Männer, in Eingängen verschwindend, wiederkehrend. Auf den Gehsteigen Gedränge, trotz der späten Stunde. Ich suchte auch, vergebens, war wohl zur falschen Zeit am falschen Ort. Ging nach rechts, in die Richtung, wo ich das Hotel vermutete. Die Lichter wurden weniger, wechselnden von Rot auf Blau und Weiß. Blinkten nicht mehr so stark, waren mehr Wort als Bild. Seriös fast.
Die Reeperbahn, nahe dem Ende. Hier oben war nicht mehr viel los. Cafès, schon finster. Lokale, die die Sessel schon auf den Tischen hatten. Mürrische Figuren, die mit Besen zwischen den Tischen die Reste der Nacht hinaus fegten. Shops, mit heruntergelassenen Rollladen. Schilder, nicht mehr beleuchtet. Ich wechselte hinüber, aber die andere Straßenseite sah nicht anders aus.
Eine Front war noch etwas heller, und da waren ein paar Gestalten.
St. Pauli Food. Arroganter Name für die Dönerbude.
Fleischliches nur noch in Form von Currywurst und Kebab.
Genau das, was ich wollte. Mein Magen verlangte nach etwas.
Ich strebte hin.
Zwei senkrechte Fleischspieße. Mit nur mehr wenig Fleisch. Der dazugehörige Türke hinter dem straßenseitigen Tresen. Im Gespräch mit zwei Männern, die nicht ins Bild passten.
Schwarzer Anzug, glänzend polierte Schuhe, dunkle Krawatte, kurz geschnittene Haare. Einer wie der andere. Auf der Straße, etwas entfernt vom Tresen stehend.
Versicherungsvertreter auf Abwegen.
Priester auf Mission.
Manager des Geschäfts dieser Straße.
Ich trat durch die Glastür, vorbei an den Schwarzmännern. Der Türke sprach weiter mit ihnen, es dauerte, bis er kam.
Ein Döner. Kalb.
Mit allem? Mit allem.
Die beiden schwarzgekleideten Gestalten waren hinter mir durch die Tür gekommen, wie ich nun bemerkte.
Was wollt ihr, fragte Ali. Ich nenne ihn so.
Auch einen Döner.
Mit allem? Mit allem.
Die beiden setzten sich an einen der kleinen Tisch, die an der Wand standen. Ich lehnte an einem schmalen Board, das gleich rechts nach dem Eingang an der Wand angebracht war.
Was macht ihr, fragte Ali.
Wie sind Transportunternehmer. Überführer.
Ja? sagte, fragte Ali.
Wir arbeiten für ein Bestattungsunternehmen.
Tote? fragte Ali.
Wir überführen.
Es sprach immer nur der eine, der mir gegenüber saß. Dunkles Haar, gescheitelt, mit viel Pomade drin. Vom anderen sah ich nur die breiten schwarzen Schultern und den Hinterkopf, kurz geschorenes Haar, dunkelblond.
Wie seid ihr dazu gekommen, hörte ich Alis Stimme.
Ein Schulkamerad, den ich nach Jahren wieder getroffen habe. Ich war arbeitslos und ziemlich herunten, damals. Komm mit, hat er gesagt, komm mit für einen Tag. Schau dir das an. Das habe ich dann gemacht.
Du fährst irgendwohin, ladest auf, bringst die Leiche zum Friedhof, oder sonst irgendwohin, wo die sie haben wollen. Ist eigentlich klasse. Seit einem Jahr bin ich dabei.
Er sprach sehr korrektes Deutsch, aber es wirkte, als fiele es ihm nicht ganz leicht, als bemühte sich darum, weil das zu seinem Auftreten und zum schwarzen Anzug passte.
Verdienst gut? wollte Ali wissen.
Wie man es nimmt. 15 pro Überführung. Aber manchmal bist du zwei Stunden unterwegs oder mehr. Sind dann 7,50 die Stunde. Dazu noch die Bereitschaft. Du wartest, bis ein Anruf kommt. Stunden. Leicht verdientes Geld, sagt der Chef. Jetzt beispielsweise sitzen wir hier auf der Reeperbahn und plaudern schön. Hat ja recht, der Chef.
Aber du fährst auch nach Sylt und Berlin. Fährst hin, holst oder lieferst ab, kriegst zu essen, Chicks am Weg.
Kannst auch länger bleiben, wollte Ali wissen.
Manchmal schon. In Russland war ich, die wollten den dort eingraben. Da kannst schon eine Nacht anhängen, fährst am nächsten Tag zurück. War nicht wirklich gut dort. Aber in Italien und Frankreich war ich, das war klasse.
Manchmal bin ich auch hier eingesetzt. Der Besitzer vom Imbiss unten, weißt du noch? Den hab ich überführt.
Die Döner sind fertig, erst meiner.
Zum Essen hier, fragt Ali.
Nein, sage ich. Nein, ja, doch, hier.
Ich will die Geschichte hören.
Es ist warm im Raum, und riecht verraucht. Ich ziehe die wetterfeste Jacke zu, auch wenn es dadurch noch heißer wird. Damit mein dunkler Anzug nicht zu sehen ist. Ich will nicht auffallen, versuche eine müde Gestalt zu sein, die teilnahmslos am Döner beißt.
Damit keiner fragt: Überführst du auch?
Was habt ihr für einen Wagen, will Ali wissen, als er den beiden ihre Döner bringt.
Die Augen des wortführenden Überführers leuchten.
Mercedes, 230 Sachen, mit allem, was Mercedes hat, Klima und so.
Wenn du die Leiche reinschiebst, brauchst nur anzutippen, und die Hecktür geht zu. Mit einem Schnurren. Echt klasse. Ist gleich verriegelt, da kann nichts aufgehen, wenn du bremst. Wär ungut, irgendwie.
230, wow, höre ich Ali.
130.000 kostet das Teil. Da musste ein normaler Mercedes zerschnitten werden, dann haben sie ein neues Heck angebaut. Ist schwer. Bilden sich Risse, manchmal, dort wo das angeschweißt ist.
Ich finds nicht in Ordnung, dass so ein Wagen anders verwendet wird, sagt der Überführer. Ich kenn einen, der schiebt am Wochenende den Kinderwagen rein. So was gehört sich nicht. Die Leute wollen, dass ihre Toten ordentlich behandelt werden. Ich hab schon islamische Tote überführt, aber es gibt auch islamische Kollegen, die machen nur das. Ist besser so, für die Familie ist es einfacher, wenn das einer macht, der das alles kennt, das Land und so.
Mein Kollege – er deutet mit dem Döner in der Hand auf Überführer Zwei – hat zigeunerische Freunde, und einmal ist er gefahren, und die waren da und waren so froh, dass er das macht und nicht irgendeiner. Da musst dann den Leuten auch zuhören, kannst nicht gleich weg fahren. Auch wenn’s deine Zeit ist. Der Überführte wird in die Leichenhalle geschoben, und du wartest, bis alle wieder da sind. Da merken sie dann, dass dir das auch nicht egal ist. Das ist richtig so.
Und du fährst nicht 230, gar nicht. Das gehört sich nicht.
Ich kaue langsamer, viel Döner ist nicht mehr da. Hinten steht ein Getränkeschrank, ich mache es den beiden Überführern nach und hole mir ein Bier.
Ich halte die Flasche Ali hin.
Zwei sechzig, sagt Ali.
Hier, fragt er.
Hier, sage ich.
Dann ist nur zwei.
Ich habe ihm zwei sechzig hingelegt.
Passt, sage ich und stelle mich wieder an meinen Platz an der Wand.
In engen Gassen ist es manchmal schlimm.Da musst du stehen bleiben, mit Warnblinklicht, und die Idioten hupen. Ich kann doch nicht den nächsten Parkplatz suchen und mit dem Handwagen durch die Gegen fahren.
Es ist nicht schlimm, du kennst die Leute ja nicht. Und hast sie vorher auch nicht gekannt.
Die Feuerwehr hat’s viel schlimmer. Die schneiden irgendwen aus dem Auto, und dabei stirbt er. Wenn wir kommen, ist das schon alles vorbei.
Ali erzählt von Istanbul.
Das ist nicht irgendeine Stadt. Istanbul ist genau zwischen zwei Kontinenten, und sie war einmal Konstantinopel, und dann war sie wieder anders, und dann sind die gekommen, dann die, dann die, was weiß ich. Aber das verstehen die Leute hier nicht.
Die Bierflasche ist leer, mir ist schlecht, ich gehe.

Mitten am Gehsteig parkt ein Auto, das mir früher nicht aufgefallen ist.
Leichenwagen, silbergrau.

Text von Veronika

Späte Rache

Es war zwölf Uhr dreißig. Im Boltzmanngymnasium waren fast alle Lehrkräfte bei einer Dienststellenversammlung im Konferenzzimmer. Nur drei Professoren hatten den Unterricht der, wie es für sie schien, langatmigen und nervenden Diskussion vorgezogen. So klangen durch das leere Schulhaus nur Klaviermusik, das Brodeln von chemischen Experimenten und Piepsgeräusche von Computern. Plötzlich zerriss diese Beinahstille Sirenengeheul. Gleich darauf strömten die noch anwesenden Schüler in Zweierreihen den Fluchtwegen entlang ins Freie.
Auch die Lehrer drängten sofort, allerdings wesentlich undisziplinierter als ihre Schüler, zu den Türen. Als Sie öffnen wollten, mussten sie feststellen, dass beide zugesperrt waren. Fast gleichzeitig kramten alle ihre Schlüssel hervor, um sie den Kollegen an den Ausgängen zu reichen. Die konnten infolge der Drängerei nur mit Mühe die Schlüssel in die Schlösser stecken. Was war das? Die Bärte ließen sich keinen Millimeter bewegen. Hektik verbreitete sich.
„Lass mich probieren!“
„Geh was für ein Schwächling bist du?“
„Hast den falschen Schlüssel erwischt!“
„Nimm meinen, der sperrt sicher.“
Noch lag Spott in ihren Stimmen, denn sie glaubten an einen Übungsalarm. Da knackte es im Lautsprecher und aufgeregt stammelnd erklang die Stimme der neuen Sekretärin: „Es war ein Anruf. Eine Bombe…“
Betretenes Schweigen, dann fieberhaftes Rütteln an den Klinken. Weitere Schlüssel wurden ausprobiert. Vergeblich. Ein junger Physiker brüllte: „Seid ruhig! Ich rufe den Schulwart an!“ Triumphierend holt er sein Handy hervor und wählte die eingespeicherte Nummer. Aber gerade als sich Herr Wachter meldete, war die Batterie leer.
„Nimm meines!“, erbot sich eine Botanikerin.
„Hast du seine Nummer drinnen?“
„Leider nein!“
„Ruf das Sekretariat an!“, meinte darauf eine Anglistin.
„Da meldet sich niemand.“
Während sich die Diskussion , wohin telefoniert werden sollte zuspitzte, krachte und rumpelte es auf einmal. Ein Schauder ergriff die Lehrerschaft. Ihre Gesichter wurden starr und fast genauso weiß, wie das der Kollegin, die das Gepolter verursacht hatte, als sie in Ohnmacht gefallen war. Ein Mathematiker reagierte als Erster: „Ich mache ein Fenster auf, damit frische Luft hereinkommt.“ Schon hatte er die Hand am Riegel, riss daran nach allen Richtungen. Fast panisch probierte er es beim Nächsten, Übernächsten… Kein einziger ließ sich drehen.
„Ich rufe die Rettung an“, erbot sich endlich die Botanikerin. Noch während sie telefonierte, erklang das Horn eines Polizeiautos. Unmittelbar begannen alle wie verrückt an Fenster und Türen zu trommeln und überhörten beinahe die gehässige Durchsage: „Die Bombe liegt zwischen euch!“
Die Panik erreichte ihren Höhepunkt.

Oberinspektor Heger, ein fescher, sportlicher Vierziger, eilte zum zentralen Meldepunkt. Zu seinem Erstaunen fand er dort keine Menschenseele. Am gegenüberliegenden Zaun des Sportplatzes standen verstreut die Schüler von drei Klassen, deren Lehrer auf ihn zueilten. „Die Klassen sind vollzählig. Dürfen die Schüler wieder zurück in ihre Arbeitsräume?“
„Nein auf keinen Fall, es gab eine Bombendrohung. Bleiben Sie mit den Schülern bis auf weiteres hier!“ Damit eilte Heger ins Gebäude und wurde beim Eingang fast umgerannt, denn seine Kollegen hatten inzwischen die Eingeschlossenen befreit.
Mit äußerst angespannten Nerven durchforsteten die Polizisten nun das Haus. Jedes ungewöhnliche Geräusch brachte sie in Alarmbereitschaft. Als zwei der Beamten gerade an die Tür des Musiksaales kamen, trauten sie ihren Ohren nicht: „Tick, tack,tick,tack…“ „Das ist die Zeitschaltuhr.“ flüsterte einer, drückte bebend die Klinke nieder und lugte vorsichtig in den Raum. Am Klavier stand ein eifrig tickendes Metronom. Die Männer tauschten erleichtert ihre Blicke aus und die Spannung löste sich durch schallendes Gelächter.
Heger inspizierte zur gleichen Zeit den Keller. Verschwand da nicht gerade ein Punk zwischen den Spinds?
„Warte Bursche, dich krieg´ ich!“
Er hatte es nicht schwer ihn zu stellen. Die Spindreihen bildeten Sackgassen.
„Was machst du da?“
Der Punk fuhr erschrocken hoch und stotterte: „Iich wowollte meiein Häandy holen, aaber iich fifinde es nicht.“
„Vielleicht finden wir es, meinte Heger ironisch.
„Name, Adresse!“
Kaum hatte Häger den Jungen perlustriert und zu seiner Klasse zurückgeschickt, hörte er im Weitergehen eigenartiges Knacken aus einem Computersaal. Beim ersten Blick in den Raum konnte er nur Monitore sehen. Instinktiv spähte er unter die Bänke und entdeckte in der rückwärtigen Ecke eine besockte Fußspitze neben einem Rechnergehäuse.
„He, du da hinten! Willst du in die Luft fliegen?“
Zaghaft tauchte ein verstrubbelter Kopf eines Elfjährigen auf.
„Ich habe geglaubt, dass das eine Übung ist . Der Professor hat nicht bemerkt, dass ich mich nicht angestellt habe.“
„Jetzt aber raus mit dir!“
Hegers Kollegen waren mittlerweile im naturwissenschaft-lichen Trakt angelangt. Dort stank es bestialisch und unter der Chemiesaaltür drang oranger Rauch heraus. „Sollte nicht schon längst die Feuerwehr da sein?“, fiel dem einen ein.
„Schei…, ich habe vergessen weiterzumelden. Der Chef wird mir den Kopf abreissen.“
Jenem war ebenfalls gerade ihr Fehlen aufgefallen und er war dabei, sein Funkgerät einzuschalten, während er wahrnahm, dass die Tür zum Sekretariat sachte zugemacht wurde. Vorsichtig, die Pistole im Anschlag stieß er sie auf. Am Schreibtisch stand die Sekretärin und schob eiligst eine Lade zu. Ihr betretener Blick blieb an Hegers Gesicht hängen und wechselte zu Erstaunen und Erkennen.
„Wolfgang?“
„Leonie? Was machst du noch herinnen? Bist du lebensmüde? Geh schleunigst zur Sammelstelle, wir reden später miteinander!“
Wolfgang Heger dachte zurück an seine Schulzeit hier in diesem Haus. Leonie Höller war das Enfant terrible der Klasse gewesen und hatte die Lehrer auf die Palme gebracht. Sie hatte allerdings stets behauptet, von ihnen benachteiligt zu werden und daher in der vierten Klasse die Schule gewechselt. Er wunderte sich also sehr, sie hier im Schuldienst zu finden, verdrängte aber den Gedanken, um sich wieder auf die Untersuchungen zu konzentrieren und die Feuerwehr einzuweisen, die endlich eingetroffen war. Sogleich drang ein Mann mit schwerem Atemschutz ausgerüstet in den Chemiesaal ein um festzustellen, dass das Inferno einer kleinen Porzellan-schale entströmt , aber die Reaktion bereits erloschen war.
Die Suche nach einer Bombe blieb ergebnislos.

Für Heger war es augenscheinlich, dass ein rachsüchtiger Schüler den Lehrern Angst einjagen wollte. Dafür sprachen die blockierten Fenster und Türen des Konferenzzimmers. Er fragte sich nur, wie ein Schüler vor der Versammlung in den Raum kommen und ungesehen die Fenster manipulieren konnte. Danach in die Schlösser Superkleber zu spritzen, dürfte kein Problem gewesen sein. Fraglich war nur, war es ein Schüler der drei noch anwesenden Klassen?
Unvermittelt kam ihm eine Idee und er eilte zum Schreibtisch ins Sekretariat, zog die Lade auf und tatsächlich lag da ein Handy mit genau der Marke und dem Typ, wie es der Punk im Keller beschrieben hatte. Heger hüllte es in ein Plastiksäckchen, steckte es ein und begab sich zur Sammelstelle.
„Das Haus ist clean, ihr könnt eure Sachen holen!“
Dann legte er seine Hand auf Leonie Höllers Schulter: „Treffen wir uns morgen im Cafe, um von alten Zeiten zu reden?“
Als Leonie zum Treffen kam, wunderte sie sich, dass Wolfgang neben dem buntesten Punk der Schule saß. Noch bevor sie bestellen konnte, sah sie Wolfgang ernsthaft an: „Kennst du dieses Mobiltelefon? Deine Fingerabdrücke sind genau auf den Tasten der Rufnummer der Schule. Leonie, Du warst die anonyme Anruferin. Es tut mir Leid, ich muss dich verhaften. “
Leonie Höllers Augen glitzerten: „Endlich hab ich es diesen Tyrannen heimzahlen können!“
Heger legte das Gerät vor dem Punk auf den Tisch: „Habe ich dir nicht versprochen, es zu finden?“

Text von Maria

Pestonkels achtzigster Geburtstag

Ein lehmfarbener Opel Kadett fährt knirschend bis direkt vor den Eingang des zu einem Gasthaus umfunktionierten Bauernhofes. Aus dem Opel quellen nacheinander: eine junge, vorzeitig ergraute, angestrengt dreinblickende Frau, drei in geringem Zeitabstand
geborene Rotznasen und ein ächzender, asthmatischer
alter Mann mit gichtigen, verschobenen Gliedern. Beim Aussteigen bleibt sein Hut hängen und fallt zurück ins Wageninnere, seine über die Glatze gekämmten Schläfenhaare geraten dadurch aus der Form und stehen plötzlich nach allen Richtungen.
Darüber können sich die Kinder kaum beruhigen vor Kichern, der alte Mann verlangt lauthals nach seinem Hut und zweitens nach seinem Stock, so dass die Frau die erwischten Bubenohren wieder loslassen und zu Hilfe eilen muss.
Derweil der Alte die Stufen erklimmt, spielen die Kinderdurch dessen extrem ausgebildete O-Beine „Kukkuck“, und weitere Autos fahren vor. Eine Familienfeier braut sich zusammen.
Die angestrengte Frau, Hüldl gerufen, mahnt zischend ihre Kinder zur Ordnung, was diese ungefähr zwei Minuten beherzigen. „Es kommt noch eine Frau mit Rollstuhl, die braucht Platz zum Rangieren, an diesem Tischkönnen wir unmöglich sitzen!“ , beschwert sich eine augenscheinlich zur Familie gehörende Dame und fuchtelt mit ihrem Stock herum. Kellner Hannes versucht zu beschwichtigen: „Ja, das hätten Sie aber schon bei der Bestellung sagen müssen!“ – „Ich hab ja nicht bestellt, weil dann“ -giftiger Blick Richtung Hüldl – „sowas gar nicht passiert wäre. Aber die Jungen glauben ja immer, sie wissen alles besser.“ Noch bevor irgendjemand sie daran hindern kann, beginnt sie, von einem Nebentisch ein Ehepaar zu verscheuchen, das vor lauter Verblüffung einfach vergisst, sich zu wehren.
Der Alte hat endlich keuchend das Gastzimmer erreicht, unter der Hutkrempe schauen noch ein paar widerspenstige Haare hervor. „Ha, die Tante Mitzi hat das Ruder schon wieder in der Hand.“, grinst ein eben hereinkommender rotgesichtiger Mitvierziger mit Schnurrbart, Kotletten und gewachstem Seitenscheitel und stupst seinen Nebenmann, der wohl sein
Bruder sein muss, an. „Ich nehm‘ s ihr bestimmt nicht weg!“, gibt der schmunzelnd zurück. ,,Hüldl, greif an!“ befiehlt die Tante Mitzi, schlurft um den erkämpften Tisch herum und drückt einem der drei Buben ihren Stock in die Hand. Hüldl wird bei diesem Manöver
nicht gerade freundlich behandelt. „Was hast du dir dabei eigentlich gedacht? Soll der Onkel Hans mit seinem Katheder sich in diesem Eck einzwicken lassen? Und die Tante Lisl mit ihrem überbreiten Rollstuhl? Wie, glaubst du, soll sie diese Kurve ins Klo schaffen? – Wenn-man-sich-nicht-um-alles-selberkümmert. “
Zwei Frauen, wohl Schwägerinnen, tragen je einen Geschenkkorb herein. „Hast auch den gleichen Einfall gehabt?“- „Ich hab mich gleich gar nicht angestrengt, einen Einfall zu haben, Wilma.“, sagt die Angeredete und stellt den Korb auf einem Beistelltischchen ab.
„Hast recht. Was soll man so einem alten Menschen auch kaufen. Hat eh alles. Und passt eh nichts.“ Die zwei größeren Buben duellieren sich mit Tante Mitzis Stock, was dieselbe sogleich zu einer Äußerung über die erzieherische Unfähigkeit ihrer Schwiegertochter veranlasst.
Der arme Hannes hat alle Hände voll zu tun, das aufgebrachte Ehepaar zu beruhigen, das lautstark zum Aufbruch rüstet und verkündet, sich hier nie mehr sehen zu lassen – „Frechheit so etwas. Aber die Pensionisten dürfen sich ja alles erlauben!“ – „Die haben auch eine dickere Brieftasche als wir. Komm, Franz, wir gehen.“
Den angebotenen Gutschein schlagen die beiden aus und drohen stattdessen mit einem saftigen Leserbrief an die regionale Tageszeitung.
Eine große schlanke Frau in Schwarz rollt einen überbreiten Rollstuhl mit einer ungeheuer dicken, aufgeputzten Frau herein: Das muss Lisl sein. Endlich – Wilma und ihre Schwägerin unterhalten sich gerade über ein Rezept für AllerheiligenstriezeI, können sich nicht über die Zugabe von Zitronenschale einigen und hoffen jede für sich auf Hüldls Partei – trifft Onkel Luis ein, ein rüstiger, drahtiger Mann um die siebzig, dem eine Ähnlichkeit mit seinem seligen Vornamenskollegen Trenker schon aufgrund seines bergsonnenverbrannten Gesichtes nicht abzusprechen ist. Im Gefolge zwei augenscheinliche Töchter samt Ehegatten und Kindern. Auf diese Gesellschaft haben Hüldls Buben schon dringend gewartet, nach kurzem Begrüßungshallo verschwindet der Pulk nach draußen, man sieht sie bald unter den Ahornbäumen im knöcheltiefen Laub herumtollen.
Auch die Töchter des Onkel Luis haben Geschenkkörbe mitgebracht und stellen sie neben die vier bereits vorhandenen. Ganz können sie sich ein Vergleichen von Größe und Inhalt der gutgemeinten Spenden nicht verkneifen. „Ob der Onkel Hans wohl demnächst Weinbergschnecken statt Geselchtes jausnen wird?“ ätzt die eine, und die andere ätzt noch ein
Stückchen tiefer: „Die hat wahrscheinlich die Hilde einpacken lassen, weil sie selber darauf scharf ist!“
Einig sind sie sich, dass man einem alten Menschen, der nicht mehr gescheit beißen könne, keine Dauerwurst und kein Pumpernickelkaufen dürfe und schon gar nicht diese Dosenfrüchte, von denen ein alter Organismus nur Durchfall bekäme, und dass sie diesbezüglich schon geschaut hätten, dass alles, was im Korb sei, auch wirklich dem Beschenkten und nicht etwa seiner raffgierigen Familie zugute komme. Aber
man wisse ja nie.
Nacheinander umarmen und küssen sie den Jubilar, der schmunzelt und schweigt nur zu all den guten Wünschen, er weiß, dass sich soviel Glück und Gesundheit und Gottessegen in seinem Leben gar nicht mehr ausgehen kann, selbst wenn er hundertfünfzig würde.
Bevor Hannes noch zum Essenaufnehmen kommt, muss er die Katastrophebeseitigen, die die Tante Lisl mit ihrem Früchtetee angerichtet hat. Eine rote Lache breitet sich auf dem Tischtuch aus, die Ausläufer rinnen der vis-a-vis sitzenden Anni und ihrer Schwägerin
in den Schoß. „Macht doch nichts, Tante Lisl, das kann doch jedem passieren.“
Auch ihre schöne, schwarze Begleiterin hat etwas abbekommen, sie rennt hektisch auf die Toilette und versucht zu retten was zu retten ist, ihre Hose sieht ziemlich teuer aus.
Hannes tritt von einem Fuß auf den anderen, die Kinder können sich nicht entscheiden zwischen „Häuptlingsschnitzel“ und ,,Piratenscholle“, von ihren Eltern werden ihnen eher erfolglos Frankfurter und/oder Pommes frites empfohlen, schlussendlich bekommen
sie doch das Gewünschte und lassen drei Viertel davon stehen.
Tante Lisl und Onkel Hans verlangen lautstark, ihr Schnitzel geschnitten zu bekommen, die Luis-Töchter kommen der Aufforderung gern nach, werden dafür gelobt, was für nette Dirndln sie sind und bekommen zu hören, wie lieblos sie sonst behandelt werden, weil kein Mensch Zeit und Muße habe, sie mehr als nur notzuversorgen. Und was sie außerdem
fiir brave Kinder hätten, die so schön die Hand geben und ihren Eltern aufs Wort gehorchen. .
„Siehst du,“, raunt der Seitenscheitel seiner Frau zu, „so musst du es mit deinen Kindern auch machen.
Der alte Knacker hat Geld wie Heu.“ – „Gut dressiert.“, sagt Wilma und wischt an dem Teefleck in ihrer hellen Hose herum. Ihrer Schwägerin wirft sie einen vielsagenden Blick zu.
Endlich ist man bei Kaffee und Torte angelangt. ,,Hast du die selber gemacht, Hilde?“ will eine der Luis-Töchter wissen. „Die Hüldl macht alles selber. Ob der Hans und ich eine Kolik davon bekommen oder nicht.“, sagt die Tante Mitzi, bevor Hilde überhaupt den Mund auftun kann.
Hilde lässt sich auf keinerlei Diskussionen ein, sie hat genug damit zu tun, ihrem Jüngsten die Ketchupspuren aus der Frisur zu tilgen, die ihm sein älterer Bruder zugetilgt hat. Wilma und Anni tauschen wieder Kochrezepte, Annis Mann, ein Mittelscheitel, fachsimpelt mit seinem Bruder, anscheinend auch ein passionierter Passivsportler, über die Missgeschicke im letzten Match. Draußen beginnt es zu regnen, was die Kinder ins Gastzimmer flüchten, Hannes schier verzweifeln und sein Tablett ins Wankengeraten lässt, weil die Bande von ihren Eltern aus Narrenfreiheit genießt und ständig vor seinen Füßen herumwuselt. Einige turnen unter dem Tisch herum und verknoten Schuhbänder, andere machen sich über die restliche Torte her, wobei weitere Kleidungsstücke und Tischwäsche zu beklagen sind.
Die Luis-Töchter trauen sich endlich zu rauchen. Sie kommen sich ziemlich gut dabei vor, worauf Onkel Hans und Tante Lisl einen Teil der guten Meinung, die sie von den beiden gefasst haben, wieder revidieren: „… weil so ein Saubrauch für ein Weibsbild sich nicht gehört!“ Wilma, Anni und Hilde fühlen sich in der Gunst der beiden Alten wieder steigen und überbieten sich beim Beteuern, wie ungesund, abscheulich schmeckend, Geldbörsel belastend, schlechtes Vorbild gebend und überhaupt unsinnig die Raucherei sei. Die Ehemänner der beiden Raucherinnen – ganz emanzipiert -geben ihnen zwar recht, stellen aber fest, dass es deren Sache und Beuschel sei und es sie nichts angehe. Worauf hin sich auch die Schöne in
Schwarz eine Zigarette anzündet. Anni will aufs WC, scheitert bei diesem Vorhaben an
ihren verknüpften Schuhbändern, schimpft auf die Kinderfratzen, aber nicht sehr, weil es genauso gut ihre eigenen gewesen sein könnten. Mitzi vermutet die Übeltäter naturgemäß in ihren Enkeln.
Als auch Kuchenteller und die meisten Kaffeetassen abserviert sind und nur mehr vereinzelt Limo-, Wein- und Biergläser herumstehen, stellt sich am Tisch Leerlauf ein, wie stets bei solchen Familienfesten, wenn alle so vollgegessen sind, dass sie sich kaum mehr rühren können. Sämtliches Blut ist in die Verdauungsorgane geflossen, sodass auch kein gescheites
Gespräch mehr zustande kommt.
Diese Gelegenheit nützt Tante Mitzi, sie schlägt ein paarmal mit dem Stock an die Tischkante und ergreift das Wort – sofern sie es denn je losgelassen: „So -da ihr nun alle auf meine Kosten gefressen und gesoffen habt, fragt ihr euch sicher, was der Grund
unseres gemütlichen Zusammenseins ist – außer, dass der Onkel Hans Geburtstag hat natürlich. Was glaubt ihr, wieso ich darauf bestanden habe, euch alle hier zu haben?“
Sie wartet eine Reaktion erst gar nicht ab und verkündet: „Nächste Woche bekomme ich ein künstliches Hüftgelenk. Danach gehe ich auf Kur und anschließend auf Urlaub zu meiner Freundin in Bayern. Ich kann also meinen Bruder nicht pflegen. Ihr seid jetzt dran.“
Das Brüderpaar zuckt beinah synchron die Achseln, als wüssten sie nicht, was das mit ihnen zu tun haben könnte. Wilma betrachtet verstohlen die Gesichter der anderen.
Walter und Hüldl schauen sich an. Sie haben die Arme verschränkt. „Nein.“, sagt dieser Blick.
Die große Schöne in Schwarz lächelt kaum merklich und streichelt Lisls Wurstfinger: „Ich hab eh mein Liserl.“
„Das sie jeden Monatsersten im Altersheim besucht…“ lästert Anni und muss sich dafür per Blick von Tante Mitzi erdolchen lassen. Die betretenen Gesichter in der Runde verheißen
nichts Gutes. Onkel Hans schaut sie der Reihe nach interessiert an und lässt schamlos die Winde wehen.
Der neben ihm sitzende Bub hält sich die Nase zu und wendet sich ab. Mitzi schäumt. ,,Da,schau,Hüldl, deine Krätze! Wenn der Onkel Hans dir einen Hunderter zusteckt, drehst du dich dann auch weg von ihm?“
„Der Onkel Hans stinkt wie die Pest!“
Seine größeren Brüder wollen ihm noch den Mund zuhalten, aber der Kleine kommt erst in Fahrt: „Der Onkel Hans hat immer dreckige Fingernägel und ein nasses Hosentürl, seine Zuckerln hat er solang einstecken, bis sie klebrig und voll Mist sind, und seine Hunderter sind verschwitzt. Außerdem stinkt er aus dem Mund und macht blöde Witze über die Mama
und ihre Figur, und der Papa ist ein Waschlappen, sagt er, und ich will überhaupt niiie mehr zu ihm!“
Was an Anspannung noch in ihm ist, macht sich jetzt mit einem Weinen Luft.
Niemand spricht.
Erst Mitzi bricht das Schweigen: „Vielleicht bleibe ich auch ganz in Deutschland.“
„Einen alten Baum kann man nicht verpflanzen. Punktum.“, sagt Wilma, und man weiß nicht so recht, wen sie da jetzt meint. Annis Mann raunt seiner Frau zu: „Wenn du den Alten im Haus hast, brauchst du nicht mehr Eier sortieren gehen.“
„Und bin angehängt wie ein Kettenhund. Danke.“
Bei diesen Worten schaut sie ihren Mann derart scharf an, dass er nichts mehr sagt. Die jenige der Luis-Töchter, die nach ihrem Hüftspeck zu urteilen nicht unter dem Joch wie immer gearteter Mehrfachbelastung ächzt, hat es plötzlich sehr eilig. Hektisch sammelt sie ihre Familie ein, und sie verabschieden sich reihum, mit dem Lächeln der gerade noch Davongekommenen. „Danke für die Einladung, Tante Mitzi, bleib gesund, Onkel Hans.“
Die andere scheint berufstätig zu sein, sie und ihr Mann sehen der Komödierelativ unbeteiligt und beinahe belustigt zu. Der kleine Bub sitzt mit rot geklopften Ohren unter dem Tisch und sinnt auf Rache. Onkel Hans nestelt mit zugekniffenem Mund und seltsam feuchten Augen an seinem Katheder herum und wird dafür von Mitzi zurecht gewiesen: „Jetzt lass das doch einmal in Ruhe, du machst dich nur wieder nass. Der schöne Steireranzug. “
Nach einer weiteren Minute Schweigen lehnt Tante Mitzi sich zurück und schnaubt: „Ihr seid mir eine Bagage. Aber macht eh nichts. Ich hab mir ja schon fast so was gedacht, und drum haben der Hans und ich uns auch schon ein schönes Pensionistenwohnheim ausgeschaut,
gell Hans.“ Der nickt bestätigend, aber nicht wirklich froh. „Dort könnt ihr dann eure Melkkuh besuchen gehen. Nur leider, zu melken wird’s nichts mehr geben. Dann
melken nämlich wir.“

Text von Peter

Die man sich nicht aussuchen kann.
(erschienen 2001 im „Verwandtenhasserbuch“ des Aarachneverlags)

Ist das ein Rotkehlchen, das da auf meiner Veranda vor dem Regen Schutz sucht? Hat einen roten Fleck auf dem Bauch, sitzt auf der Lehne des alten Korbsessels und schaut mit einem Auge recht dumm in meine Richtung. Mein Opa hätte das sicher ganz genau bestimmen können und ich wohl auch, wenn ich ihm auf unseren vielen ausgedehnten Waldspaziergängen ein bißchen besser zugehört und mir weniger Gedanken über die Fernsehsendungen gemacht hätte, die ich in der Zwischenzeit versäumte. Aber so ist aus mir trotz bester erblicher Voraussetzungen dann doch kein Hobby Ornithologe geworden.
Im nächsten Moment fliegt diese Rotbauchschwalbenschwanzmeise einfach weiter, ohne sich vorgestellt zu haben – wahrscheinlich liegt meine Katze draußen irgendwo herum. Als ob dieses Wiskas verwöhnte, ausgefressene Trumm auch nur den Kopf nach einem so mageren Piepmatz heben würde.
Jetzt bin ich mit meinen Gedanken also bei meinem Großvater angelangt – auch das noch. Nicht nur, daß er mich immer zu diesen endlosen Naturlehrstunden in den Wald gezerrt hat, ausgerechnet mich, der ich schon damals zu den Vorreitern der aufkommenden Couch-potato Generation gehört habe. Pünktlich wie schmerzhafte Zahnarztbesuche durfte ich ihn außerdem zweimal jährlich zu den Promenadekonzerten im Kurpark unserer Stadt begleiten und dort einigen Cousins und Cousinen höheren Grades zusehen, wie sie ihre frisch gewaschenen Hälse in diverse Blechblasinstrumente entleerten, die ich Banause nicht einmal namentlich unterscheiden konnte.
„Schau Dir den X und die Y an.“, hieß es dann immer, „Wie die schneidig frisiert und hübsch angezogen sind. Und wie sie erst toll spielen.“
Bei all seinen vorwurfsvollen Blicken dürfte er über die Jahre allerdings eines vergessen haben: Die musikalischen Mitglieder unserer Sippe waren allesamt Nachkommen der Geschwister meiner Großmutter. Wenn ich also aus seiner Sicht derart mißraten war, dann lag es wohl eindeutig an seinen Genen.
Was würde ich heute dafür geben, wenn mir Mendels Gesetze damals schon ein Begriff gewesen wären. So habe ich immer nur beschämt neben ihm gestanden und auf einen überraschend aufziehenden Platzregen gehofft, der mir genau so oft versagt geblieben ist.
Mein Großvater ist nun schon seit über zehn Jahren tot und somit ist ihm das Schicksal meiner restlichen Familie erspart geblieben. Bei diesem Gedanken hellt sich mein Blick wieder auf.
Seit einer guten Viertelstunde sitze ich jetzt schon neben meinem Schreibtisch und schaue durch das Fenster in den Garten. Der friedliche, regnerisch trübe Herbstvormittag hat keine Ahnung, welcher Amoklauf in diesem Zimmer gerade erst zu Ende gegangen ist. Nicht einmal meine Katze hat etwas bemerkt, aber die reagiert sowieso nur noch auf das Rattern meines elektrischen Dosenöffners.
Auch der Garten ist friedlich. Die schweren, satt grünen Grashalme sind schon wieder viel zu lang, werden aber heuer wohl nicht mehr gemäht werden, von mir auf jeden Fall sicher nicht. So stelle ich mir ein geruhsames Wochenende vor: Keine Verwandtenbesuche, kein Grund aus dem Haus zu gehen und kein schlechtes Gewissen, wenn man sich in eine Decke wickelt, eine Pfeife anzündet und sich mit einem guten Buch in diesen Korbsessel setzt.
Gestern war ein ganz normaler Samstag: Es wurden zwar wieder einmal alle Erwartungen auf außergewöhnliche Unterhaltung enttäuscht, trotzdem kam ich zu fortgeschrittener Stunde relativ gut gelaunt nach Hause und hatte heute in der Früh unter keinerlei Nachwirkungen des feuchtfröhlichen Abends zu leiden. Woher dann beim Frühstück plötzlich dieser unbändige Haß gekommen ist, ist mir daher vollkommen unerklärlich. Es war wohl einer jener Augenblicke in denen man auf einmal neben sich steht und seine weiteren Handlungen nur noch machtlos aus der Ferne beobachten kann.
Jetzt, da alles vorbei ist, bin ich wieder in mir und vollkommen ruhig. Dabei sollten mich eigentlich heftigste Schuldgefühle plagen. Lediglich meine rechte Hand, die eben noch die Tatwaffe gehalten hat, zittert ein wenig.
Das ist wirklich erstaunlich, denn immerhin habe ich in einer knappen Stunde sämtlichen Mitgliedern meiner, zugegebenermaßen nicht gerade sehr großen Familie, ein spektakuläres Ende bereitet. Nichts Gewöhnliches – keine Pistole, kein Gift, schließlich hat man als kreativ arbeitender Mensch auch einen Ruf zu verlieren.
Nach getaner Arbeit sitze ich hier und bin erschrocken über diesen Rausch der Gewalt. Erschrocken ja – aber bereuen? Nicht ein bißchen!

Ich schaue zum Himmel. So schnell wird der Regen wohl nicht nachlassen, er hat sich über der Stadt festgesetzt und auf einen längeren Aufenthalt eingerichtet. Trotzdem wird es allmählich Zeit für meinen schweren Gang, ich kann mir keinen weiteren Aufschub mehr gönnen. Sicher suchen sie schon nach mir.
Ich stehe auf, rücke den Stuhl peinlich genau zurecht und gehe, während ich meine Jacke überziehe, mit leisem Stöhnen nach draußen, wo ich sofort von einem kalten Windhauch willkommen geheißen werde. Während ich also den Jackenkragen aufstelle schaue ich nach meiner Katze, doch die hat sich offensichtlich an einen wärmeren Ort verzogen – ist ja auch nicht dumm das Vieh.
Die Schultern hochgezogen laufe ich zum Gartentor und stoße dabei an die feuchten Äste der Büsche, die ich schon vor Wochen hätte zurückschneiden sollen. Sofort höre ich die Stimme meines Vaters: „Wenn man bei deinem Gartentor reinkommt, weiß man schon alles. Der Eingang ist die Visitenkarte des Hauses .. bla .. bla .. bla….“
Was war es doch für eine große Illusion, zu glauben, ich könnte mit dem Umzug in das, von meiner Großtante geerbte Häuschen ein wenig Unabhängigkeit gewinnen. Seit mein Vater in Pension ist sehe ich ihn öfter als zu der Zeit, als ich noch zu Hause wohnte. Immer kommt er zu absolut unchristlichen Zeiten, und immer mit einem vollkommen unnötigen Vorhaben im Kopf. Wenn er es mir auch nie glauben wird, ich bin ganz zufrieden in meinem Refugium. Es ist mir vollkommen egal, daß der Wind durch die alten Holzfenster pfeift, daß ich mit irgendwelchen Niedrigtemperatursparradiatoren meine Heizkosten erheblich senken könnte, daß die Brombeerbüsche verwildern oder an meinen Dachrinnen langsam die Farbe abblättert. Ich bin schließlich Schriftsteller und kein Multifunktionshandwerker, das ist MEIN Haus, nicht ich der Mensch dieses Hauses. Aber das hat mein Vater nie verstanden, und auch nicht, daß ich nach jedem seiner Besuche mindestens einen halben Tag brauche um mich wieder auf meine Arbeit konzentrieren zu können.
Irgendwann mußte dieser aufgestaute Haß ja einmal explodieren – dabei würde man mir den Tod meines Vaters wahrscheinlich noch als Unfall abkaufen:

Der rüstige Witwer lebt alleine in seinem perfekten Haus. Nicht das kleinste Unkraut stört die Monotonie des englischen Rasens, die Rosen stehen in Reih und Glied, die ausgewogene Wohnatmosphäre wird von sieben Schichten Farbe eisern geschützt und Zugluft ist selbst auf dem Dachboden so passé wie die Beulenpest. Endlich in Pension kann er sich jetzt 20 Stunden pro Tag seinem Schmuckstück widmen und wurde endgültig zum Mensch des Hauses. Wahrscheinlich schläft das Haus schon ganz schlecht bei dem Gedanken, daß er eines Tages sterben wird und es sich dann nach einem neuen Pfleger umschauen muß.
An einem regnerischen Herbstsonntag fällt sein wachsamer Blick auf einen geknickten Ast des alten Weichselbaumes. Äußerlich mag er vielleicht den Mundwinkel verziehen, aber tief drinnen freut er sich, daß er jetzt einen Grund hat um in seine Gummistiefel zu schlüpfen und in den Garten zu gehen. Schließlich steht der Baum auf einem Hügel und ist von der Straße aus im Herbst sehr gut zu sehen. – Wie schaut denn das aus, ein schief herabhängender Ast? Was sollen da die Leute denken?
Im Gerätekeller untersucht er zunächst seine Leiter peinlich genau. Nichts haßt der alte Mann nämlich mehr als verdrecktes Werkzeug und diese Alu-Leiter hat ihm sein leider vollkommen aus der Art geschlagener Sohn erst gestern zurück gebracht, dabei hat der sie sicher schon seit zwei Wochen nicht mehr gebraucht. Oberflächlich mag sie ja sauber erscheinen, aber seinem prüfenden Blick entgeht nicht die kleinste Verunreinigung. „Na ja.“, seufzt er, die muß nachher sowieso noch einmal geputzt werden. Dann wickelt er seine Baumsäge aus dem ölgetränkten Lappen und geht an die Arbeit.
Es sind immer die obersten und am schwersten zugänglichen Äste, die am leichtesten brechen. Vorsichtig auf die regennassen Sprossen tretend klettert er alsdann nach oben. Bei jedem Schritt prüft er den Stand der Leiter und so dauert es drei Minuten bis er den fraglichen Ast erreicht, einen sicheren Stand gefunden und mit der Arbeit begonnen hat. Nach zwei Dritteln steigt er eine Sprosse höher um einen günstigeren Arbeitswinkel zu erhalten, leider vergißt er dabei auf sämtliche Vorsichtsmaßnahmen: Sein linker Fuß gleitet über das nasse Metall wie über eine unsichtbare Bananenschale, seine Hände greifen verzweifelt ins Leere, die Säge fällt zu Boden und der verhinderte Holzfäller stürzt kopfüber hinterher. Hätte er den Sturz an sich mit etwas Glück noch überleben können, so macht die in der Erde stecken gebliebene Säge jede Hoffnung zunichte. Einen solchen Schnitt bringt man allerdings nur mit einem sorgfältig gepflegten Sägeblatt zusammen.
Was für ein kopfloses Ende für einen derart bedachten Mann!

Ja, ja, mein Vater. Wie war noch sein goldenes Zitat, als ich ihm vor Jahren stolz meine erste Laubsägearbeit präsentierte?
„Kreativität ist gut und schön, aber das wichtigste ist, daß man nachher das Werkzeug wieder sauber aufräumt.“
Habe ich diesen Ratschlag nicht brav befolgt? Woher sollte ich denn wissen, daß Schmierseife nicht das richtige Mittel ist, um eine Leiter zu putzen.

Inzwischen bin ich an der Bushaltestelle angekommen. Natürlich drei Minuten zu spät. Das paßt genau zu diesem Tag! Als ich gerade zu einem derben Fluch ansetzen will, kommt hinter mir der Bus. Es geht eben nichts über pünktliche Verkehrsbetriebe.
Ich steige ein und schaue auf den Streckenplan: Zum Polizeipräsidium? – 17 Stationen, aber wenigstens muß ich nicht umsteigen.
Wer von uns hat sich noch nie gefragt, wie es zu einem Amoklauf kommt? Ich weiß es jetzt: Schwierig ist nur der erste Schritt, der Rest kommt ganz von selbst. Und von meinem Vater führte der natürliche Lauf der Dinge geradewegs zu meinem Onkel.
Hier glaubt mir keiner mehr den Unfall. Eine elektrische Heizdecke kann natürlich sehr wohl einen Kurzschluß haben, und zu einem Brand kann es dann auch kommen. Aber die Explosion, die dem armen Mann keine Chance mehr gegeben hat, sein Bett zu verlassen und gleich das ganze Haus zum Einsturz gebracht hat? Nein, da muß ganz eindeutig Dynamit im Spiel gewesen sein.
Die Heizdecke brauchte er für sein Rheumaleiden. Mein Onkel: Postamtsleiter im Vorruhestand – natürlich wegen des Rheumas! In seiner Jugend begeisterter Segelflieger und später auf der ganzen Welt unterwegs gewesen: Armenien, Pakistan, ganz Südamerika und was weiß ich noch wo. Früher konnte er uns Kindern mit seiner beruhigenden Baßstimme die tollsten Geschichten erzählen, da vergaß selbst ich manchmal das Fernsehprogramm. Heute kennt er nur noch ein einziges Thema: Sein Rheuma, sein beschissenes vollkommen uninteressantes Rheuma. Milliarden werden sinnlos in die Rüstung gestopft, aber noch niemand hat ein Medikament gegen sein Rheuma gefunden. Sein Rheuma! Immer nur SEIN Rheuma, als ob er der einzige Mensch auf dieser Welt mit Gliederschmerzen wäre.
Tja, wenn man es so will, SEIN Rheuma habe ich jetzt kuriert – mit sehr viel Wärme. Und seine beiden Söhne auch, meine lieben Cousins, die hab ich gleicht mit kuriert – Prävention sozusagen, Rheuma soll ja erblich sein. Müssen schon skurrile Bilder gewesen sein, wie man sie aus dem Schutt geborgen hat: Der eine von einem kanadischen Elchkopf erschlagen – ich verzichte aus Pietätsgründen auf jeglichen Kommentar, wer dümmer dreingeschaut hat. Der andere mit je einer Billardkugel in jeder Augenhöhle.
Die zwei haben ja immer schon geglaubt, etwas besseres zu sein. Früher wegen dem Billardtisch im Keller und erst recht als sie der Herr Dipl. Ing. und der Herr Mag. Dr. Jur. wurden. Was sich allerdings vor zwei Wochen abgespielt hat, hat jedem erdenklichen Faß die Krone aufgesetzt:
Da gehe ich – eh schon schlecht gelaunt – in ein Innenstadtlokal. Nur auf ein schnelles Bier. Wer steht da lässig an der Bar? Meine Cousin Hans, in der ganzen anzüglichen Pracht seiner Anwaltstracht inklusive gräßlicher Krawatte und Hochglanzschuhen. Natürlich sieht er mich auch und winkt mich zu sich, um mich seinen Kollegen vorzustellen:
„Mein Cousin bla bla bla, der Schriftsteller bla bla bla glaubt er zumindest ha ha ..“
Ich hab gar nicht erst zugehört, doch dann dreht er sich auf einmal zu mir, den Rest irgendeiner abfälligen Bemerkung noch frisch auf den Lippen und meint wörtlich: „Nicht wahr, Schreiberling?“
Schreiberling! Und so was von einem Rechtsverdreher! Aber es war ja nicht dieses Wort allein, bei weitem nicht, es war die verächtliche Art, mit der er es mir vor die Nase gelegt hat – hingespuckt, ja hingekotzt hat. Ich kann gar nicht richtig beschreiben wie. Am ehesten stellt man sich dazu ein Raumschiff vor und ein sieben Meter großes, rotes Monster, dem Feuer aus jeder Pore spritzt, dessen totbringende, meterlange Gifttentakel wild durch den Raum zischen und das soeben die gesamte Besatzung des Raumschiffs wie Streichhölzer geknickt hat, weil sie ihm keine Antwort auf eine bestimmte Frage geben konnten. Tief unter ihm, im hintersten Eck des Raums sitzt verschreckt bibbernd die elendste Menschengestalt im ganzen Universum: Ein Schriftsteller auf dem Weg zur großen Buchmesse auf dem Saturn. Diesen Wurm bemerkt nun das Monster, fährt sein sabberndes Teleskopauge aus, sieht ihn mit der versammelten Verachtung der Fleischfresser sämtlicher Galaxien an und fragt ganz langsam. „Nun? Kannst DU es mir sagen? SCHREIBERLING?“
Ich weiß auch nicht, wie mir damals ausgerechnet dieses Bild vor Augen kam, aber man muß es kennen um zu verstehen, wieso ich nach einer kurzen Pause: „Rumpelstilzchen?“ gesagt und daraufhin die versammelte Anzugträgerkompanie wortlos stehen gelassen habe.

„Nächste Haltestelle Rotenturmstraße!“

Ich schaue auf. Bin ich etwa schon zu weit gefahren? Diese abschweifenden Tagträume sind so etwas wie die Berufskrankheit eines Geschichtenerzähler. Ein Blick auf den Streckenplan beruhigt mich: Noch zwei Stationen.
Bis auf eine Mutter, die versucht ihre zwei Kinder im Vorschulalter darauf einzuschwören, dieses eine mal bei der Großmutter nicht gleich sämtliche Wohnzimmerschmuckgegenstände auf den Boden zu zerren, ist der Bus inzwischen leer.
Also zwei Minuten noch. Kurz spiele ich mit dem Gedanken einfach sitzen zu bleiben, weiter zu fahren. Einmal die ganze Runde, zurück nach Hause und mich dort ganz tief in meinem Bett zu vergraben. Aber ich weiß, daß es keinen Sinn hat. Aufschieben macht alles nur schlimmer. Wenn ich jetzt komme, wird es mir sicher noch zu meinem Vorteil ausgelegt.
Noch eine Station: Der Bus bleibt stehen, die Tür vor mir geht auf und zwei Pensionisten quälen sich die Stufen herauf, offensichtlich auf dem Weg zum Sonntagstreffen der Arbeiterwohlfahrt. Ohne daß ich weiß, welcher Schalk mich reitet stehe ich im nächsten Moment auf und biete den beiden meinen Sitzplatz an. Als ich in ihren Gesichtern auf blankes Unverständnis stoße deute ich erklärend auf das grell gelbe Schild hinter mir:
<>
Lächelnd stolpere ich im anfahrenden Bus nach hinten. Was für ein herrliches Gefühl, ein Böser – ein Outlaw zu sein.
Durch die Windschutzscheibe kann ich schon das Polizeipräsidium sehen. Selbst bei Sonnenschein ist ein trostloses Gebäude. Grau und schmucklos stammt es aus dem 19. Jahrhundert und steht unter Denkmalschutz. Als Kind hab ich dort einmal eine Zeugenaussage gemacht, bei einem Verkehrsunfall. Keine aufregende Sache, ich bin nur am Straßenrand gestanden und war von der Karambolage viel zu fasziniert als daß ich bei der Verhandlung irgendeine Hilfe hätte sein können. Nervös war ich mit meinen 9 Jahren natürlich trotzdem genug. Vorher habe ich eine halbe Stunde auf dem Gang gewartet und durch den Innenhof auf die vergitterten Fenster des Untersuchungsgefängnisses gestarrt. Das muß so sein wie Schule nur ohne Ferien, hab ich mir damals gedacht, aber auch ohne Hausaufgaben.
Der Bus bleibt stehen, ich steige aus, wie auch die leidende Mutter, die versucht ihre hüpfenden Bälger unter dem Schirm zu halten. Drei Paar Schuhe gehen dann gestreßt in Richtungen Großmutter davon. Nur ich stehe noch an der Haltestelle. Erst jetzt bemerke ich die verräterischen Spuren meiner Taten am rechten Zeigefinger. Obwohl ich weiß, daß es keinen Sinn hat, beginne ich daran zu reiben während ich über die Straße gehe. Es ist wieder einmal typisch für meine Familie, daß wir den Geburtstag meines Onkels ausgerechnet im Restaurant „zur Justiz“ feiern müssen. Ein düstereres, stimmungsloseres Lokal kann man selbst mit viel Mühe nicht finden. Hat wahrscheinlich Hans vom Büro aus organisiert. Ambiente, das Wort hat der sicher noch nie gehört.

Den Türgriff schon in der Hand bleibe ich ein letztes mal stehen. Der Tintenfleck am Zeigefinger ist noch immer deutlich zu sehen, dafür ist mein linker Daumen jetzt auch noch blau. Drinnen warten sie alle, die „Wieder mal was verkauft?“ – „Was macht das neue Buch?“ – Partie. Ein tiefer Atemzug dann bin ich bereit. Und wenn es zu schlimm werden sollte, dann brauche ich ja nur an die Geschichte zu denken, die ich heute morgen geschrieben habe.

„Hallo Onkel Ernst! Alles Gute! Tut mir leid, daß ich so spät komme. Was macht das Rheuma?“

Italienische Reise

von

Helmut Zsifkovits

Wir stecken fest. Nichts bewegt sich, wir können nirgendwohin, nicht nach links, nicht nach rechts, nicht vorwärts, nicht rückwärts. Niemand außer uns zieht in Betracht sich rückwärts zu bewegen, aber da vorne sitzt Angelo, der Meister der Kehrtwendungen, der unerwarteten Schwenks, der Rückkehr zum Ursprung, des Denkens in Kreisen.

Jetzt ist auch ihm jedes Schlupfloch verwehrt, die Hände liegen resignierend am Lenkrad des Busses, nur der Gasfuß zittert leicht.
Der Stau auf der Gegenfahrbahn ist wahrscheinlich viel länger, zehn Minuten lang waren wir vorbeigefahren an familiengefüllten Autos und Lastwagenfahrern mit Coladose und Wurstbrot, an schwitzenden und fluchenden Nadelstreifmanagern mit Handy, an quiekenden Viehtransportern, an Bussen voller frohlockenden Schulkindern, die mit diebischer Freunde den Zwangsausfall der Rechenstunde antizipieren.

Alle waren sie stillgestanden, hatten ein paar Quadratmeter Asphalt für sich, manche mehr, andere weniger. Hatten sich zugesehen beim Wurstbrotessen und Colatrinken und Telefonieren und Fluchen. Angelo hatte noch breit unter seiner Sonnenbrille hervor gegrinst und unseren himmelblauen Bus zwischen die feuerroten Ferraris auf der linken Spur gezwängt, unbeeindruckt vom wilden Gehupe.

Irgendwann waren auch wir stillgestanden. Der rote Sportwagen vor uns hatte noch einmal aufgeheult, doch auch die solcherart demonstrierte Kraft der blechbewehrten Pferdestärken hatte nichts an seiner Bewegungslosigkeit zu ändern vermocht. Und Angelos Gasfuß zittert leicht. Wir stecken fest. Eingezwängt zwischen drei Millionen Idioten, die zur Fiera
Ceramica, der weltgrößten Messe für Fliesen fahren. Eine Stadt erstickt. In
zweitausend Jahren wird Bologna wiederentdeckt werden, unter einer Schicht von
fünfzehn Meter Fliesen. Scheiß Italiener. Warum können sie ihre Böden nicht mit Spannteppichen belegen, oder mit Holzparkett. Oder asphaltieren. Oder in ihren Nationalfarben streichen.

Und Angelos Gasfuß zittert leicht. Ohnmächtig starrt er vor sich hin, und die endlose Schlange der Fahrzeuge der Fliesenfetischisten spiegelt sich in seinen Sonnenbrillen. Er sagt italienische Worte, die ich nicht verstehe und wohl besser auch nicht verstehen sollte. Ich krame in meinen Gedanken und finde den italienischen Film aus meiner Kindheit, von dem ich nicht mehr weiß wann er entstanden ist und wer der Regisseur war und wer die Darsteller. Ich weiß nur noch, dass er an einem Abend im Fernsehen lief und „Der Stau“ hieß. Eine Familie fährt in den Urlaub oder aus dem Urlaub. Vielleicht waren es auch drei Freunde auf dem Weg zur Hochzeit des vierten Freundes oder ein
junges Pärchen oder die Teilnehmer an einem Firmenausflug oder der
Produktionsleiter mit der Schwester der Buchhalterin auf dem Weg zu ihrem
verschwiegenen Liebesabenteuer in den Bergen oder am Strand oder am
Autobahnparkplatz. Wer immer sie sind, sie fahren auf der Straße, und plötzlich stockt der Verkehrsfluss, bald darauf steht alles. Die Autofahrer hupen, schimpfen, diskutieren. Sie steigen aus und versuchen die Ursache des Stillstands zu ergründen. Die Schlange vor ihnen scheint endlos, einige gehen los und kehren nach kurzer Zeit wieder und wissen nichts und gehen nochmals los und kommen nach langer Zeit wieder und wissen nicht mehr.

Die Menschen sammeln sich in Grüppchen und kommen ins Gespräch, erzählen sich
und schimpfen und schließen Bekanntschaften. Gemeinschaften entstehen, der
Leidenden, der Zornigen, der Gleichgültigen, der Hinterfragenden. Stunden vergehen, die Straße ist zu einem Campingplatz geworden, mit provisorischen Sitzgelegenheiten und Picknickkörben, Dächern aus Decken und Kleidungsstücken, aufgespannt gegen die lastende Hitze. Als die Menschen begonnen haben sich in ihre Situation zu finden und aufgehört
haben zu fragen und die Sonne verschwunden ist und die Menschen begonnen haben
sich in die Decken einzuwickeln, kommt ein Schrei von vorne, aus der Kolonne der stehenden Autos, ganz fern, dann lauter, wird weitergereicht und erreicht schließlich alle. Etwas hat sich bewegt. Hektik entwickelt sich, die Gestrandeten bauen ihre Behelfsquartiere ab und räumen die Jausenreste und die Kinder und die Meerschweinchen ins Auto und werfen ihren Müll über die Straßenbegrenzung.

Alle sitzen sie wieder im Auto, auch die Familie oder die Freunde oder das Pärchen. Langsam rollt die die Schlange an, Minuten später fließen die Autos wieder dahin, und die Straße sieht aus, als wäre hier nie das temporäre Dorf mit den Menschen und den Treffpunkten und den Gesprächen und den spielenden Kindern gewesen.

Diabolito flucht, nein, er heißt Angelo, immer noch. Der Gasfuß hat aufgehört zu zittern. Seit vier Tagen sind wir unterwegs, mit 21 Studenten auf Exkursion in der Region um Bologna. Jeden Tag fahren wir in eine andere Richtung, und jeden Abend kehren wir zurück nach Ravenna, wo wir uns einquartiert haben, in der Nähe von Dantes Grab und dem Mausoleum des Theoderich und dem Grabmal des Unbekannten Soldaten. Angelo steuert uns mit seinem Bus durch alle Klippen. Nie kommt uns eine Straße bekannt vor, auch wenn wir das Gefühl hatten in die gleiche Richtung zu fahren wie am Tag zuvor. Immer wenn wir denken, nun würde Angelo abfahren, fährt er weiter,
zur nächsten Abfahrt oder zur übernächsten, oder er fährt von der Autobahn ab und wieder auf, und zwei Abfahrten weiter wieder ab. Fiera, sagte er bedeutungsvoll. Mit jedem Tage scheinen die Strecken länger. Angelo chauffiert uns gegen Einbahnen in winzige Seitenstraßen, und auch Sackstraßen akzeptiert er erst als solche, wenn sich eine Mauer vor ihm aufbaut. Er fährt ebenso schnell rückwärts wie vorwärts, und die nationalen Geschwindigkeitsrekorde auf Autobahnausfahrten und in der Einfahrt zu
Mautstellen sind fest in seinen Händen.

Wenn er auf Baustellenabschnitten auf die schmale linke Spur fährt und zum
Überholen ansetzt, lehnen sich die Insassen unseres Busses nach links, als könnten sie so verhindern, dass wir den Sattelschlepper rechts neben uns rammen. Unsterblichen Ruhm erlangte Angelo, als er in einem engen Kreisverkehr eine innere Spur zum Überholen fand, die niemand dort vermutet hatte. Alle im Bus hielten den Atem an, und selbst den temperamentvollen italienischen Autofahrern stockte der Ton in der Hupe.

Und nun sitzt Angelo vor seiner Windschutzscheibe, vornüber gebeugt, die
Sonnenbrille ist auf die Nase gerutscht, der Gasfuß zittert nicht mehr, und Angelo flucht. Dann, plötzlich, ist es wie im Film. Ein Sattelschlepper beginnt sich zu bewegen, weit vor uns in der Schlange, und zieht andere mit in seiner Bewegung. Angelo schnaubt durch die Nase, rückt die Sonnenbrille zurecht und lässt den Motor aufheulen. Dann fahren wir, nein, wir rollen, ganz langsam nur, aber wir sind in Bewegung.

Sechzig Minuten später werden wir es bis zur Ausfahrt 17 geschafft haben, die
verbleibenden vier Kilometer, und dann werden wir bald vor dem Werkstor stehen. Granolatte heißt die Firma, die Milchfabrik ist eines unserer Exkursionsziele. Gestern haben wir zwei Dinge erfahren. Erstens, wir sollen eine halbe Stunde später kommen. Die Arbeiter müssen noch schnell einen Streik beenden, da hat gerade niemand Zeit für uns. Aber dann ist es gut, der nächste Streik ist erst am Dienstag. Zweitens wissen wir nun, dass das in etwas eckigem Englisch formulierte Mail den gesammelten Wortschatz des Unternehmens enthält. Presentatione will be in Italiano, stand am
Ende. Niemand von uns beherrscht mehr Italienisch, als es für die Bestellung einer Pizza Margarita erforderlich ist. Es wird hoch peinlich werden. Wir werden uns gegenüber stehen wie ein neu entdeckter Urwaldstamm im Urwald von Guinea den europäischen Eroberern. Und wir wissen nicht einmal, wer die Eingeborenen waren und wer das Volk aus der Zivilisation. Einer der Studenten schlägt vor, in den Stau zurück zu fahren. Dies würde alles lösen. Aber da eilt schon eine Dame auf uns zu und begrüßt uns mit lautem Buon giorno. In diesem Moment höchster Anspannung erinnert sich meine Kollegin Selina, dass sie in der Schule eine Kurzeinführung in die italienische Sprache erhalten hatte. Drei Jahre nur, aber doch, ein paar Grußfloskeln sind noch da, und sie meint drei Arten von Spaghetti schon unterscheiden zu können.

Die italienische Dame sagt etwas und winkt in einer Weise, die uns die
vorangegangenen Worte als Aufforderung verstehen lässt ihr zu folgen. In diesem Augenblick der Krise fallen Selina noch vier weitere Worte ein, sie meint sogar, sie würde auch noch auf deren Bedeutung kommen. In einem Ausbruch von Heroismus sagt sie, sie werde übersetzen. Wir sind gerettet, die Blamage ist von unserem Land genommen, und Selina ist der große Orden für Verdienste um die Nation gewiss. Die italienische Dame geleitet uns in ein Bürogebäude, führt uns in den ersten Stock, in ein großes Besprechungszimmer und bedeutet uns Platz zu nehmen. Selina sitzt in der ersten Reihe, sie hält ein Wörterbuch umklammert und spricht ein Gebet, zumindest scheint es so.

Heilung

von

Maria Edelsbrunner

Wenn sie den Staub auf den Küchenschränken und den Dreck an den Festern deutlicher wahrnimmt, weiß sie, es ist Frühling. Die Bäume, die sie letzten Herbst gepflanzt hat, scheinen den Winter gut überstanden zu haben.
Zeit, wieder einen Teil der alten Kleider zu entsorgen. Das letzte Stück wegzugeben schafft sie noch nicht, nicht dieses Jahr.
Die Fotos sortieren.
Die Fotos, auf denen beide abgebildet sind, lachend, jeweils eine Bierflasche in der Hand, ein Abend war das gewesen, der sich ins Endlose gedehnt hatte.
Alle Abgebildeten bleiben stehen in ihrem Jahr. Die Bäume im Garten wachsen nicht weiter.
Nur sie selber wird älter, sie achtet darauf nicht fotografiert zu werden, damit sie auch stehen bleiben kann.
Zeit, das Reisig auf dem Grab zu entfernen und die eingegangenen Stiefmütterchen durch frisch gekaufte zu ersetzen.
Es liegt sehr weit entfernt, dennoch besucht sie es regelmäßig.

Sie geht an seiner Seite durch eine belebte Einkaufstraße, es muss wohl in Wien gewesen sein, und sie waren vorher bei einem ehemaligen Arbeitskollegen von ihm zu Besuch gewesen. Der erste Tag im Jahr ohne Strümpfe, der Wind streicht warm um ihre Beine und spielt mit ihrem Kleid und ihren Haaren, eine Eisbude lockt sie, sie essen das erste Eis im Jahr.
Automatisch steuern sie beide auf die gleiche Bank zu, sitzen dort, blinzeln in die Sonne und reden nichts.
Später wird sie diesen Tag als einen der schönsten ihrer gemeinsamen Zeit in Erinnerung haben, so wie alle Erinnerung trügerisch ist.
Die Tage, die sie so für sich haben, sind selten, und wenn sie ihnen zufallen, wissen sie zuerst gar nicht, was sie damit anfangen sollen.
Erst als das letzte Kind auszieht, sind sie wieder ein Paar und können plötzlich das Paarsein nicht mehr.
Sie versehen das Haus mit neuen Fenstern.
Er geht zu den Eisschützen und langweilt sich.
Sie hilft ehrenamtlich in einer Obdachlosenküche mit, arbeitet mit Frauen im ähnlichen Alter, mit ähnlichen Vorzeichen, trinkt Kaffee und lacht mit ihnen und bleibt doch die ganze Zeit für sich und verspürt den Impuls, sich einfach ins Auto zu setzen und nicht nach Hause zu fahren.
Sie versuchen Geschäftigkeit, Hobbys, Reisen, Freundschaftsbesuche und laden ihre Kinder ein, nicht zu oft, damit sie immer noch gern kommen können.
An manchen Tagen stellt sich unvermutet etwas wie Gemeinschaftlichkeit, Zufriedenheit, vielleicht eine Art dumpfes Wohlbefinden ein, dann, wenn sie still nebeneinander sitzen und Kaffee trinken oder wenn sie im Garten den Wein aufbinden und die arbeitenden Hände in geübtem Einverständnis ineinander greifen.
Man könnte glücklich sein, wenn man entschlossen genug dazu wäre.

Der Tag, an dem ihr Schutzmechanismus versagt, ist ihr deutlich in Erinnerung. Sie ist zur Blutabnahme zum Arzt bestellt, trifft dort auf den Ex-Freund ihrer ältesten Tochter und fängt ein Gespräch an. Sie bleibt unverbindlich, es geht sie nichts an, was damals vor sich gegangen ist.
Er erzählt von sich aus.
So hat sie ihn in der Zeit, wo er zur Familie gehört hat, nicht erlebt.
Sie treffen sich nach dem Arztbesuch in einem Kaffeehaus. Er erzählt weiter.
Sie redet immer weniger und schaut ihn nur an.
Sie schaut demonstrativ auf die Uhr, bezahlt die beiden Kaffee und entschuldigt sich.
Die Flucht kommt viel zu spät.
Sie kann gar nicht glauben, dass er sie wieder sehen will.
Sie gehen zusammen auf einen Jahrmarkt und fahren Autodrom und es ist ihr egal, was sie zusammen für ein Bild abgeben.
Sie stehen an einem Weinstand und trinken ekelhaft warmen Welschriesling. Sie umarmen sich, bevor sie ins jeweilige Auto steigen.
Am nächsten Morgen hat sie Kopfschmerzen und macht sich Tee statt Kaffee zum Frühstück.
Ihr Mann schaut sie an und fragt, ob es ihr nicht gut gehe.
Sie denkt an die vergangene Nacht, an das Wachliegen, an das Versprechen.
Sie sagt wahrheitsgemäß, dass sie nicht gut geschlafen habe. Dass sie sich wieder hinlegen wolle. Er hebt andeutungsweise die Schultern und lässt sie wieder sinken und vertieft sich in die Zeitung.
Er drückt ihr einen flüchtigen Kuss auf und fährt in die Arbeit.
Sie zwingt sich zu Routinearbeiten, ruft ihre Freundin an, erledigt Behördengänge, schaut sich eine Ausstellung an, ohne nachher sagen zu können, was sie gesehen hat, besucht ihren Sohn, putzt ihr Auto außen und innen, rupft abgeblühte Sommerblumen aus und wirft Laub auf die abgeschnittenen Rittersporne, versieht die Rosenbüsche mit Mist, gräbt Dahlienknollen aus und Tulpenzwiebeln ein und kommt nicht zur Ruhe.

Erschöpft und aufgedreht sitzt sie ein paar Tage später auf der Terrasse, eine Decke um die Schultern, die flachen Strahlen der Oktobersonne auf dem Gesicht und versucht, sich in ein Buch fallen zu lassen.
Als das Handy läutet, wird es endlich still in ihr.
Sie schreibt einen Zettel und sperrt das Haus ab.
Sie holen sich Kaffee in Plastikbechern, finden einen Platz am Flussufer, wenig frequentiert, setzen sich nah nebeneinander und reden und reden, und ihre Hände finden sich ganz selbstverständlich.
Eine große Ruhe breitet sich in ihr aus, als sie sich folgerichtig küssen.
Das Handy vibriert schon zum wiederholten Mal in ihrer Hosentasche.
Sie vereinbaren nichts und verabschieden sich.

Im Auto sieht sie endlich nach, wer angerufen hat und erkennt die Nummer nicht.
Ihr ist schlagartig klar, dass sich alles ändern wird, wenn sie zurückruft.
Der Arbeitskollege ihres Mannes scheint selber unter Schock zu stehen, so sachlich und unbeteiligt klingt seine Stimme.
Erst am Ende des Gespräches versagt sie ihm. Er bietet ihr an, sie ins Krankenhaus zu fahren.
Sie lehnt ab und fährt los. Ein Mädchen in einem hellgelben Mantel überquert einen Zebrastreifen, es trägt schwarze Schnürstiefel, die eingezogenen Bänder sehen schmutzig aus. Die Haare leuchten in einem verwaschenen Orange
Noch Jahre später kann sie jedes Detail an diesem Mädchen beschreiben.

Was sie von ihrem Mann zu sehen bekommt, sind Kabel, Schläuche, bleiche Hände auf weißem Bettzeug und die groteske Silhouette darunter, die von einem vollständig und einem halb abgetrennten Bein herrührt. Sie darf anstandslos zu ihm.
Sie berührt seine Hände, küsst sein Gesicht auf eine unverletzte Stelle. Eine Krankenschwester bringt ihr einen Sessel und ein Glas Wasser. Sie setzt sich nah zu ihm und erstarrt.
Es scheinen Stunden zu vergehen, bis ein Arzt kommt und sie zum Gespräch bittet.

Die Versteinerung löst sich erst Wochen nach dem Begräbnis.
Nach einem Gespräch mit ihren Kindern überträgt sie den Verkauf des Hauses einem Maklerbüro und findet weit entfernt ein kleines Häuschen mit großem Garten.
Sie gräbt ihre Rittersporne und Rosenbüsche aus, packt die Papiersäcke mit den etikettierten Dahlienknollen ein und siedelt weitere Pflanzen um. Die Tulpen, der Lavendel, die Obstbäume, die Weinstöcke bleiben zurück.
Sie setzt sich mitten in ihrem neuen Garten auf die Erde und beginnt auf einem Bogen Packpapier einen Plan zu zeichnen.
Anfang Dezember entzündet sie in einer großen Schale auf der Terrasse ein Feuer.
Sie wartet, bis die kleinen Buchenscheite eine schöne wärmende Glut ergeben.
Dann legt sie ihr Handy darauf und sieht zu, wie es sich verwirft, Blasen bildet und dabei ein hässliches Ächzen von sich gibt.

Die Nacht am Strand

Von

Isolde Elisa Bermann

Sie verlassen die Hauptstraße und biegen in einen schmalen asphaltierten Weg, vorbei an müden Gärten und vereinzelten Häusern, die sich in die rötliche Erde ducken. Weiter und weiter verästelt sich die Straße, wird schmäler, holpriger. Die Landschaft ist flach, Schilf und Oleander, kaum mehr blühend, fächern im Wind. Sie überqueren eine Holzbrücke, folgen nun einem Schotterweg, der sie zwischen Pinien und in der Abendsonne blinkenden Lagunenseen nach Süden führt.
Der Campingbus holpert unwillig über den Damm, dessen Schlaglöcher mit braunem Regenwasser gefüllt sind, hellgrün die Schirme der Pinien, schlank stehen sie eleganten Damen gleich, sich schützend.
Das kann nicht der richtige Weg sein, sagt sie und hält sich fest, als der Wagen bockig über Wurzeln ins Innere des Waldes rollt.
Er nickt lächelnd, doch, sagt er. Du wirst sehen.
Äste schaben und kratzen über den Lack, der Pfad hat sich aufgelöst. Die Pinien stehen locker gestreut auf braunnadeligem, weichen Boden. Er hält an. Schau, sagt er.
Sie sieht die Düne.
Dahinter ist es.
Sie steigt aus, atmet den würzigen Duft der Nadeln, hört nichts als das Zirpen der Zikaden. Dann läuft sie los, aus dem Schutz der Bäume, über den sandigen Boden, auf die Düne zu. Ihre Füße werden schwer, sie sinkt ein, wird langsamer, der Sand hält sie fest, macht sie schwerfällig. Ungeduldig geht sie weiter. Dann das Blau. Weich schlagen die Wellen ans Ufer, bilden kleine schaumige Inseln auf braunem Sand.
Sie läuft das Ufer entlang, die Sandalen in der Hand. So wenig, denkt sie. Nur der Horizont, das Meer, der Sand und der breite Saum grüner Kuppeln, der sich in der Ferne verliert.
Wir sind völlig allein, ruft sie, als sie zu ihm zurückkehrt. Er hat den Bus unter einem riesigen Baum geparkt. Die einzige Sorge, die ich habe, ist, dass wir im Sand versinken, sagt er.
Nein, nicht ganz allein, übrigens. Er zeigt nach Norden.
Ein hellblauer VW-Bus schmiegt sich in eine flache Mulde. Eine Wäscheleine ist gespannt, Campingstühle stehen dem Meer zugewandt.
Ah, gut, lacht sie. Es war mir schon fast ein bisschen zu einsam hier.
Sie läuft ins Wasser, das warm ist und sanftwellig, kaum bewegt sie Arme und Beine, lässt sich treiben, lässt sich sinken, taucht wieder auf. Haarsträhnen kleben salzschwer an ihren Wangen, sie lässt sich ans Ufer spülen. Als sie über die Düne steigt, sieht sie den hellblauen Bus vor sich, im Campingsessel eine Frau mit kurzen weißen Haaren.
Ein Lächeln kommt ihr entgegen, die Haare sind auf halber Stirn kerzengerade abgeschnitten, ein Büschel steht am Hinterkopf hoch.
Hallo, sagt sie, ein feiner Platz ist das hier, nicht?
Blaue Augen, weit offen, als staunten sie fortwährend, sehen sie an. Das Lächeln sinkt tiefer ins Gesicht.
Oh ja, wunderbar.
Die Anmut der alten Frau verzaubert sie, legt den Abend in weichen Wellen um ihren Körper, sie hockt sich in den Sand, in einiger Entfernung als dürfe sie eine unsichtbare Schwelle nicht übertreten. Wann sie angekommen seien, fragt sie weiter.
Das wisse sie nicht genau, lächelt die Frau.
Nein?, fragt sie nach und lacht auf. Hier vergisst man einfach die Zeit, das verstehe ich.
Unvermittelt richtet sie sich auf und winkt zum Abschied,
Die Dämmerung kommt schnell. Sie sitzen vor dem Bus, essen Käse, Oliven und Tomaten. Die Luft ist satt, streicht wie eine weichfellige Katze um sie. Er reicht ihr trockenes weißes Brot. Wie schnell das immer geht, lacht sie, heute Morgen war es noch ganz weich.
Es ist so schön, dass man Angst hat, es könnte nicht real sein, sagt sie leise. Sie haben Kerzen angezündet, lassen sich auf das Spiel des Windes ein, der sie immer wieder zum Verlöschen bringt. Sie sehen der schief gewachsenen jungen Schirmpinie zu, wie die hereinbrechende Nacht sie in einen Scherenschnitt verwandelt.
Es sind Deutsche, sagt sie und deutet zum blauen Bus hinüber. Und? Fragt er. Hast du jemanden gesehen? Ein reizendes, altes Paar, sagt sie. Ihn hab ich aber nicht gesehen. Sie machen kein Licht da drüben.
Etwas fällt auf ihr Brot, dann – plötzlich –ist sein weißes T-Shirt mit schwarzen Flecken übersät. Überrascht schreit sie auf. Im Schein der Taschenlampe sehen sie es. Fliegende Ameisen, die aus der Dunkelheit fallen.
Es werden mehr, träge Tiere, sich paarend. Er erschlägt sie. Sie hört auf zu essen. Duckt sich, als etwas über sie fliegt, etwas Größeres, ein Vogel vielleicht.
Fledermäuse, lacht er. Unser Paradies hat ein paar Sprünge.
Ein Windstoß löscht die Kerzen. Sie bleiben im Dunkeln sitzen, die einzelne Pinie weit vorne am Strand zeichnet sich noch eine Weile vor dem Horizont ab bevor sie in die Nacht schmilzt.
Leise unterhalten sie sich. Über die gefährliche schmale Bergstrecke, die sie an diesem Tag gefahren sind. Über die gleißenden Marmorwürfel im Steinbruch der Stadt am Golf. Über ihren Spaziergang in den schmalen Gassen, sich an die Hausmauer pressend, wenn ein Auto durchfährt. Der kleine Löffel im Milchschaum des Cappuccino auf dem runden Tisch im Straßencafe. Die alten Männer, aufgereiht wie Holzkugeln, deren Farbe abblättert, vor pastellfarbenen Häusern auf kleinen Piazzas. Und die Kirche, in deren Innerem ein junger Mann alte Fresken freipinselt.
Als sie schweigen, macht die Stille sich breit, ab und zu trägt der Wind die Stimmen der Beiden heran, die wie sie am Strand sitzen, ebenso wie sie nun im Dunkeln.

Komm schlafen, sagt er und steht auf. Sie geht ins Bad, wäscht sich das Gesicht, cremt spannende Haut ein, putzt Zähne, lässt ein leichtes Nachthemd über ihren Körper rieseln. Er liegt schon im Bett, die Leselampe senkt ihr Licht auf braune Haut, Buchseiten leuchten. Als sie herankriecht, löscht er das Licht, legt einen Arm unter ihren Kopf, fühlt ihre Anspannung.
Ich hab die Kette vorgelegt, keine Angst.
Hab ich nicht, sagt sie. Nicht hier. Nicht mit diesem alten Paar da drüben.

Sie wacht auf. Die Dunkelheit ist grün. Ein rotes Licht blinkt. Erst versteht sie nicht. Das Nachthemd klebt an der Haut. Sie schlägt die Decke von den Füßen, dreht sich. Atmet nicht. Doch dann. Sie versteht. Das grüne Licht kommt vom Kühlschrank, es ist blass. Das rote Blinken zeigt an, dass die Türen des Campingbusses verschlossen sind. Es ist gut. Nichts ist anders.

Sie erwacht wieder. Die Stille ist eine wirkliche Stille. Eine Stille, in der nichts sonst mehr Platz hat. Was, wenn doch? Wenn es doch ein Geräusch gäbe? Wenn es ein Geräusch gäbe, das hier nicht sein dürfte? Ein Schaben. Da ist ein Schaben, ein Wischen. Sie atmet nicht. Dreht sich. Da ist das Schaben wieder. Von ihr selbst verursacht. Sie lacht leise auf. Es ist gut. Es gibt keine Geräusche. Sie streckt ihren Arm zu Seite, die ruhig auf dem sich kaum merklich bewegenden Körper liegen bleibt.

Sie zieht behutsam das Rollo am Seitenfenster hoch. Draußen das Schwarz. Was, wenn ein Licht schiene? Sie versucht, sich zu erinnern, in welcher Richtung der blaue Bus steht, zieht die Beine unter der Decke hervor, hebt sie, zieht sie an, richtet sich auf. Rot blinkt die Anzeige am Armaturenbrett. Sie gleitet vom Bett, geht leise nach vor, schiebt die Innenjalousie an der Windschutzscheibe beiseite. Schwärze. Was hast du erwartet. Ein hell erleuchtetes Etwas da draußen?

Was tust du, fragt er und dreht sich von ihr ab. Ich suche meine Brille, flüstert sie. Du spinnst. Schlaf jetzt.

Sie wacht auf, weil etwas ihr den Atem nimmt. Au, sagt sie. Entschuldige, aber ich muß mal raus. Raus? Sie ist hellwach. Du kannst doch hier … im Wagen? Leise klickend entriegeln sich die Türen, er schiebt die Seitentür auf, stolpert in die Nacht. Beeil dich, flüstert sie. Als er wieder zurückkommt, hat sie sich auf seine Seite gerollt.
Die Stille ist unberechenbar. Jeden Moment kann ihre Tarnung fallen. In jedem Augenblick kann sie anders klingen. Mit jedem Atemzug, noch bevor er zu Ende ist, kann etwas hörbar werden. Sie versucht, nicht zu Ende zu atmen, um diesen Moment nicht zu verpassen. Sie liegt auf dem Rücken, kerzengerade, die Beine ausgestreckt, ihre Füße berühren die glatte Innenseite des Busses. Wenn ich nicht atme, kann sich auch nichts verändern, denkt sie.
Ich werde wachen bis zum Morgengrauen. Dann schlafen. Ich werde wachen, bis sich am Dachfenster der orangefarbene Strich zeigt, wie jeden Morgen die Sonne ankündigt, den Tag, einen weiteren Tag in der Kette endloslanger Urlaubstage. Sie sieht ins Wageninnere, das fahle Grün lässt die Tür zum Bad erkennen, weiter vorne blinkt. Nein. Nichts blinkt. Sie hebt den Kopf, doch das rote Blinken am Armaturenbrett ist nicht da. Er hat vergessen, den Wagen zu verriegeln, denkt sie. Es atmet neben ihr, es atmet laut. Nein, nicht wecken. Nicht wieder diese Stimme hören, wie sie jede Nacht zu hören ist. Dieses Genervte. Diese kleine Kälte. Sie darf nachts nichts mehr tun. Weder sprechen. Nicht ihre Brille suchen. Nicht lesen. Nichts von Angst sagen. Nichts tun, was seinen Schlaf stören könnte.
Der Wagen ist nicht verriegelt. Sie wird wachen.

Sie wacht auf. Sofort sieht sie nach dem orangefarbenen Strich am Dachfenster. Doch alles ist dunkel. Zu früh. Zu früh aufgewacht. Sie sieht durch den schmalen Spalt, den die heruntergelassene Rollo freigibt. Schwärze. Zu früh. Zu früh. Sie legt ihre Hand auf den sich kaum merklich bewegenden Körper an ihrer Seite.
Keine Wölbung. Nichts Festes. Zu niedrig, zu weich. Nichts. Ihre Hand liegt auf der Decke. Sie tastet nach dem Lichtschalter der Leselampe. Doch sie weiß es schon davor. Im Wagen ist es frisch und kalt. Die Schiebetür ist offen. Sie schlüpft aus der Decke, rutscht vom Bett und ruft leise in den dunklen Spalt.
Hey, bist du da draußen? Soviel hast du doch gar nicht getrunken?
Die Stille ist eine vollkommene Stille.
Nur später macht sie Platz. Dem Schrei. Sein Körper liegt mit dem Gesicht nach unten im Sand. Das Licht im Wageninneren erreicht gerade noch das Dunkle um seinen Kopf.

Beim Hofer war’s

von
Peter Heissenberger

Bernds Kopf fliegt von Links nach Rechts, sein Blick jagt über den Parkplatz, aber der Mann im graublauen Anorak ist längst im Verkehrsgetümmel der Unglücklichen verschwunden, die am 23. Dezember nach Büroschluss noch einkaufen müssen.
Nach zehnminütigem heroischem Kampf hatte Bernd einen Parkplatz ergattert und jenem Mann vorschnell zwei Euro für sein Einkaufswagerl gegeben, nur um zu spät erkennen zu müssen, dass nur ein Einfacher im Schloss steckt. – Über den Tisch gezogen beim Einkaufswagerlpfand? Warum macht jemand so etwas? Und wie oft gelang ihm das wohl ohne verprügelt zu werden? War so ein Verdienst eigentlich einkommenssteuerpflichtig? – Ein Euro – mein Gott! Bei seinem Stundenlohn muss er dafür – wie lange? – Ja, zwei Minuten vielleicht, arbeiten. Trotzdem wurmt es ihn maßlos. Wer ist schon gerne der naive Einfaltspinsel, der in seiner trägen Unaufmerksamkeit von einem ausgefuchsten Kleinganoven ausgetrickst wird?
Andererseits konnte es auch ein Versehen gewesen sein. In dem Trubel merkt sich doch keiner, welche Münze er vor einer halben Stunde in den Schlitz geschoben hat.
Bernd lächelt wieder. Sicher: Es muss ein Versehen gewesen sein, und außerdem kann er es ja nachher genau so machen. Auge um Auge, Euro um Euro.

Und damit einmal noch durchgeatmet und dann hinein in den Strom der Konsumwilligen! Konsum und Hofer? Späte Fusion mit einem Verstorbenen? Ein kurzer Gedanke nur, der ihn schon wieder verlässt, als er erkennen muss, dass seit seinem letzten Einkauf hier alles umgestellt worden ist. Echte Panik macht sich breit. Die routinierten Wege müssen neu ausgekundschaftet werden. Wie soll er in diesem Gewühl je den norwegischen Lachs geräuchert, den Sahnekren und die 20%ige Diät – Mayonnaise finden? Jawohl NNAISE, so geschrieben wie es sich gehört, nicht NÄSE. 100%ige Nässe gibt es draußen genug.
Erst diese linke Rechtschreibreform mit ihren Mayonasen, den 20%igen und den 80%igen Mayorüsseln, die dann von über – ambitionierten Supermarktleitern, die ausgerechnet im Advent ihre Autorität beweisen müssen, auch noch in den zweiten Quergang links, neben das Ketchup verbannt werden. Ketchup – ob das wohl noch dort stehen wird, wenn man es längst schon anders schreibt?
Ein Mensch wie er ist einfach nicht für diese hektische Zeit geschaffen. Er ist kein Freund des schnellen Wandels, er liebt Beständigkeit, Werte auf die man sich noch verlassen kann, sein Weltbild ruht auf tiefen Fundamenten.
Und damit steht er wieder im Stau. Irgendwo weit vorne, hinter hoffnungslos ineinander verkeilten Einkaufswagen gibt es Sekt. „So billig, wie sie ihn noch nie gesehen haben!“
Rien ne va plus. Nessun – weita? – Ja, Italienisch hätte er immer schon gern gekonnt: Andiamo amici prego!
Jetzt ist er schon 15 Meter weit ins Geschäft vorgedrungen und hat noch immer keinen einzigen Artikel aus dem Regal genommen. Sicher beobachten ihn die anderen längst argwöhnisch:
Wer ist der Typ dort? Der mit dem leeren Einkaufswagen? Ein Verwirrter? Ein Supermarktdetektiv? Einer, der nur wegen dieses einen Super Mega Sonderangebots gekommen ist, von dem ich noch nichts gehört habe? …
Er zieht den Kopf ein, stellt den Kragen seines Detektivmantels auf und schaut nach links und rechts, doch dort hat man nur Augen und Worte für den Stau:
„Hearst? Geht’s da vorn endlich amal weiter, ihr Weihnachtsmänner?“
Wenigstens ein nettes Schimpfwort, wenn es so etwas überhaupt gibt.

Dann plötzlich: Der Stau reißt auf! Einkaufswagen werden unsanft zur Seite bugsiert, ein ausladendes Hausfrauenhinterteil elegant umschifft. Bernd legt ein Kilo Reis in seinen Wagen. Alibikauf! Aber Reis kann man immer brauchen! Und dazu eine frische Freilandgurke –
Wieso eigentlich Freilandgurke? Aus artgerechter Bodenhaltung etwa? Warum konnte man in seiner Jugend trotz all der antikommunistischen Propaganda ausgerechnet immer ungarische Freiland – Gurken kaufen? Wo doch nur Österreich frei war?
Ganz Österreich? Nein, ein kleines Rudel Aufrechter hält ihm weiterhin den Weg zu den Tiefkühlvitrinen beharrlich versperrt und so weicht er nach links aus, vorbei an den zerwühlten Wühltischen für Sonderartikel, wie sie heutzutage in keinem Lebensmittelmarkt mehr fehlen dürfen: Nasenhaartrimmer, Aktenvernichter, formschöne Strapazierhosen für den modebewussten Rhinozerosreiter von heute. Kurzum Dinge, bei denen man sich einfach fragen muss, wie man bislang hat ohne sie auskommen können, vor allem, wo hier alles doch sooo billig ist. – 300 farbige Heftklammern im Glas! Damit wären auch seine Urenkel noch versorgt.
Eigentlich fehlen jetzt nur noch diese freundlichen Konsum-Motivations-Berieselungsdurchsagen zu seinem Glück:
„Vergessen sie nicht unser Angebot der Woche, beim Kauf von vier Dosen Mischgemüse erhalten sie das Polaroid einer Feldtomate gratis.“
Das Angebot der Woche! Wie das schon klingt, ungefähr so überladen wie: Das Gebot der Stunde! Da hat er schon ganz andere Gebote gehört, die, die mit „Du sollst nicht….“ beginnen. Aber waren das dann nicht Verbote? – Das hat er sich eigentlich immer schon gefragt. Andererseits, wie klingt denn das? Die zehn Verbote? So gesehen ein kluger Marketing Schachzug – wär’ sicher ein hervorragender Supermarktmanager geworden der alte Moses. Man muss seine Thesen eben mit der nötigen Autorität vorbringen, gottgesandt, eingemeißelt in Steinplatten, das wäre auch in der heutigen Zeit mit ihrer Reizüberflutung und der von allen Seiten auf uns einprasselnden Reklame wichtiger denn je:
„Du sollst keine japanischen Autos kaufen!“
„Du sollst keine andere Schokolade essen als meine!“
„Du sollst nicht begehren die Produkte der Konkurrenz!“
„Du sollst mit keinen gefälschten Designerprodukten protzen vor Deinem nächsten!“
„Du sollst nicht töten!“
„Du sollst die österreichische Alpenmilch ehren, auf das Du wohl gedeihest!“
Moment, Halt! Ist da nicht doch eines dabei gewesen, das wirklich wichtig war? Verdammt! Jetzt hat er nicht aufgepasst!

Kaufen, Kaufen, Kaufen, rund um ihn gehen die Einkaufswagen in die Knie. Er lässt sich treiben als würde er gar nicht dazu gehören. Als sei er längst selbst ein Konsumartikel, einer den keiner will, ein Ladenhüter. Was passiert eigentlich mit einem Geschäft, wenn jemand den Ladenhüter kauft? Geht es dann pleite oder brennt es nieder, das unbehütete Geschäft?

Damit hat er seine erste Runde vollendet, eine Dose Cocktailkirschen und ein Dutzend marinierte Austern gekauft, beides reine Zufallstreffer. Wenn er sich weiter derart ablenken lässt, dann ist er zu Sylvester immer noch hier. Mit einem kühnen Sprung flüchtet er in eine enge Nische zwischen Fertigpüree und Hühnersuppe. Ein rettender Hafen im immer dichter werdenden Strom – das Auge des Orkans. Durchatmen!
Am liebsten würde er seinen Wagen hier stehen lassen, sich durch eine Oberlichte zwängen, nach draußen abseilen und auf eine Essenslieferung vom Weihnachtsmann hoffen. Am 23. Dezember geht doch niemand mehr einkaufen – da sind die Geschäfte viel zu überfüllt!
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Jingle bells, jingle bells.. „Grüß Gott!“ 6290, 7.90, 3×1.90, 3.90 – kann der nicht schneller machen, bis der endlich seine Milch im Wagerl hat staut sich schon das halbe Band. Jingle bells, jingle bells. Na endlich! 1.90, 3.90, 1-2-3-4-5 mal 0.90, Sonderartikel Strickhandschuhe 19.90. jingle bells, jingle bells“
Seit sieben Jahren sitzt sie nun schon an der Kasse. Aus dem Job, der eigentlich nur helfen sollte das Tief im Medizinstudium zu überbrücken ist längst eine Einbahnstraße in die Werktätigkeit geworden. Eine Hand am Band, eine Hand an der Kasse. -„7.90, 5.90, 2.90,“ – Sie ist zur gut geölten Maschine geworden. Bestaunt, manchmal sogar gelobt: „Also, wie sie sich das alles merken und so schnell eintippen, Fräulein, also da kommen diese modernen Computer Dinger nicht mit, sie wissen schon, die mit den Strichen und so. Also, was ich mich da schon geärgert habe.“
Lächeln, „Danke!“, der nächste Kunde wartet schon ungeduldig.
Wen interessiert es schon, dass sich die Maschine in ihr schon lange nicht mehr abstellen lässt. „2.90, 1.90, 3.90. macht zusammen 11.90.“ – „Danke und 90.“ – „Schönen Tag noch und 90.“ – „Endlich Feierabend und 90.“ – „Wir sehen und dann morgen und 90.“ – „Komm gut nach Hause und 90.“ – „Ich schlafe in letzter Zeit kaum noch und 90.“

Es gibt keinen Netzstecker zu ziehen, keine Lider zu schließen, ihre Nächte, ihre Träume, sind ein endloses Förderband aus versäumten Gelegenheiten. Franz – 11.90, Faschingsprinzessin der dritten Klassen – 150.90, Anatomieprüfung im dritten Versuch – 20.000.90, Egon – 1.90? 0.90? „Ach, für den müssten Sie eigentlich noch etwas kriegen, nehmen Sie ihn nur ja schnell mit.“ Warum kaufen diese gesichtslosen Menschen nur immer wieder die selben Dinge?
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Endlich ist ihm seine Liste eingefallen. Wozu hat er die heute morgen eigentlich geschrieben? Männer sollten einfach nicht einkaufen gehen. Das muss so eine Art Gendefekt sein.
Aber jetzt: Den Wagen wird er in der Nische stehen lassen. Als Infantrist ist er in diesem Dschungel sowieso viel besser dran. Er spürt archaische Kräfte, endlich wieder Jäger und Sammler sein! Längst verloren geglaubte Triebe werden wach – die nächsten beiden Wochen wird er sich nicht rasieren.
Erste Beute: Zwei Kilo Orangen – die Nasangen sind anscheinend noch nicht reif.
Er singt: „Ich wurd’ geboren mit ‘nem Lächeln im Gesicht, die ganze Welt, die ist mein Freund, oh – ja!!“
Na ja, klingt auf Englisch irgendwie besser – oder einfach nur halb so blöd.
Leise summend tänzelt er auf sein nächstes Ziel zu: Äpfel – zwei Kilo im Plastiksack. Ein schneller Griff – erwischt! Auftrag Obst erfüllt, zurück damit zur Basis und dann weiter zum Fleisch.
Links, rechts, flinke Bewegungen, eine volle Drehung, ein kleiner Sprung, Schritte, wie er sie seit der Maturaballpolonaise nicht mehr gegangen ist.
„Got a dance!“ Fred Astaire ist tot, Gene Kelly ist tot, aber ihm geht es blendend.

Hat er möglicherweise das Schild übersehen auf dem für alle anderen ganz deutlich steht: „Freundliches Gesicht machen bei Strafe verboten.“ Was haben die sich denn erwartet? Drängen sich eine Stunde vor Feiertagsladenschluß mit einer halben Milliarde anderer in einen deprimierenden Betonflachbau und wundern sich, dass ihnen das keinen Spaß macht? Der dort drüben zum Beispiel, der mit dem Lodenmantel und dem Gamsbarthut, ist der nicht zum Schießen? Weidmannsheil, Herr Graf, das Rehgulasch liegt in der dritten Truhe.
Oh Gott, diese Menschheit ist verloren!
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Zwei Stunden noch! Ihr macht es nichts aus, auch heute zu arbeiten. Besser als zu Hause zu bleiben – allein. „Guten Tag.“ Ein rascher Blick in den Einkaufswagen, ist eh schon lange nichts mehr vorgekommen. „5.90, .90, 1.90“
„Entschuldigung. Können sie nach dem Toilettenpapier vielleicht eine Zwischensumme machen? Ich weiß nicht, ob ich genug Geld dabei habe.“
Sie nickt. Schon wieder so eine. Indirekt – Einkäuferin. Warum kommen die nicht gleich ins Geschäft und sagen: „Was kostet das alles, was sie hier haben?“ – „38 Millionen gnädige Frau.“ – „Gut, dann gehen sie bitte mit und ich sage ihnen, was ich alles nicht nehme.“ Immer Lächeln!
Mit dem Toilettenpapier um 3.90 macht das genau 23.70.
Natürlich hat sie nicht genug Geld dabei, die dumme Pute, dabei liegen da noch gut 15 Euro auf dem Band. Zwanzig habe sie, also knapp die Hälfte, das ist wirklich ein starkes Stück, so gut kann sogar ein Blinder schätzen.
Die nächste Kundin ist offenbar die Mutter. „Hab ich’s Dir nicht gleich gesagt Hilde? Wissen Sie was, Fräulein, lassen sie mich vor, dann weiß ich wie viel mir übrig bleibt, für meine Tochter.“
„Gerne!“ Sie versucht ruhig zu bleiben, vielleicht sind das ja Testeinkäufer. Immer freundlich bleiben zu den Kunden. Lächeln!
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Er steht an der Kasse und wieder geht nichts weiter. Dabei liegt sein gesamter Einkauf schon auf dem Band. Alles da: Zitronensaft, kandierte Früchte, der Zucker heute sogar als Feinkristall.
Was sich vor ihm abspielt muss allerdings der Supergau für jede Kassiererin sein. Jetzt klettert die Alte halb über den Einkaufswagen der Jungen. Ihm soll’s recht sein, seine Schlacht ist geschlagen und wie er vom Parkplatz kommen soll im Augenblick noch egal.
Die Kassiererin mit ihrer Engelsgeduld macht Weihnachten alle Ehre. Schade, dass ihr Lächeln nicht ernst gemeint ist. Er summt: „Deine wahren Farben sind leider nicht so schön wie ein Regenbogen.“
Aber ist es ihr denn zu verdenken? Er könnte das nicht, keine fünf Sekunden lang still sein bei so viel Dummheit. Eine Stunde muss sie jetzt noch durchhalten, dann kann sie heim zu ihrem Mann. Zu den zwei kleinen Kindern vielleicht. Er starrt auf die flinken Finger. Kein Ring zu sehen. – Was ist das nur mit Singles und Weihnachten?
Endlich zahlt die alte Schachtel. Wie viel sie jetzt übrig hat? Satte 7 Euro das reicht bei weitem nicht. Mit einem lauten Klatschen fährt seine Hand zur Stirn. Er erntet einen finsteren Blick der Kassiererin.
„Aber nein – nein. Das galt doch nicht Dir, ich bin doch auf Deiner Seite.“ Er lächelt, doch da hat sie sich längst schon weg gedreht. – Na toll, das hat er ja wieder einmal großartig verbockt!
Vor ihm steigert sich derweil das Drama zu einem furiosen Schlussakt. 5 Euro 40 müssen zurück gelegt werden: „Was kostet das?“ – „Und was das?“ – „Aha!“ – „Und das?“ – „Und die drei zusammen?“ -„Hmm!“
Er hat den Zehner schon in der Hand. „Nehmens den -bitte!!!“ Natürlich weiß er, dass das nicht geht – nicht einmal zu Weihnachten. Das erwartet heute keiner mehr, da wird dann gleich ein Pferdefuß vermutet und am Ende muss ER sich dann noch rechtfertigen.

Er senkt seinen Blick und starrt in den leeren Einkaufswagen. Er ist weit weg, an den unruhig herbeigesehnten Weihnachtsabenden seiner Kindheit. Advent, damals die längste Zeit im Jahr. Im nächsten Moment sieht er die Lösung.
>> Du musst hier predigen! <<
So rasch und unvermutet, wie dieser Gedanke auf einmal aufgetaucht ist, so klar und nicht weiter hinterfragbar steht er jetzt vor ihm. Natürlich! Wenn nicht er, wer dann? – Wenn nicht jetzt, wann dann? – Diese Welt kennt schon genug, die ihre Augen vor allem verschließen. Er wird sich hinstellen, wo ihn jeder sehen muss und den Menschen diese Augen wieder öffnen. „So kann das nicht weiter gehen meine Freunde. Wir müssen einander wieder anschauen. Miteinander reden, uns auch mal anlächeln. Versuchen wir doch, auch das, was wir tun müssen mit Freude zu machen. Es ist gar nicht schwer.“

Ein Gefühl reiner Wärme steigt in ihm auf. Eine Eingebung, ein Auftrag, der keinen Aufschub duldet. Voll Euphorie dreht er sich um.
Er merkt nicht, wie hinter seinem Rücken die Geflügelschere um 7.90 zurückgegeben wird und in hohem Bogen zur Quengelware fliegt.
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„So, bitte! Den Zettel kann ich ihnen aber nicht mitgeben, ich muss das nachher stornieren, sonst hät’ jetzt die Chefin kommen müssen und ich dann alles neu eintippen.“
„Ich brauch den Zettel aber. Ich muss ja überprüfen ob sie richtig gerechnet haben.“
Ihr steht die Galle bis zum Hals. Wenn sie dieser Funzen noch einmal ins Gesicht schauen muss, dann wird sie sich unweigerlich an ihrer Kehle fest beißen. Sie reißt den Kassabon ab und wirft in den Wagen: „Dann kontrollierens des da hinten und geben ihn mir dann zurück. Auf Wiedersehen.“ Warum nur hat sie die Geflügelschere so weit weggeworfen? Diese dummen Hühner gehörten längst gerupft.

Die Schlange vor ihrer Kasse ist endlos. Eine Stunde? – Das ist doch eine Lüge, sie wird hier sitzen bis zum Ende ihrer Tage, bis sie hier endlich Harakirischwerter verkaufen. Durchatmen. Lächeln!
„Grüß Gott.“

Ein leerer Einkaufswagen steht verlassen neben dem Förderband. Der Kerl mit der klatschenden Grimasse ist weg. Was ist jetzt los? Wo ist der hin? Ist sie denn heute nur von Verrückten umgeben?
Die ganze Schlange hat sich inzwischen umgedreht und jetzt sieht sie ihn auch, wie er auf den Wühltisch mit den Strickhandschuhen geklettert ist, aufsteht, die Hände weit ausbreitet und ruft:
„Freunde, hört mir zu! Ich.. Ich .. äh, ..Also,.. Ich, …. Äh, wollte… ich glaube, .. ich hab da unten irgendwo meine Kontaktlinsen verloren.“

Hinterland

Hinterland

von Peter Heissenberger

Der Adler stürzt vom Himmel, packt seine Beute und fliegt mit schweren Flügelschlägen wieder davon.

Auf der anderen Seite des Hügels spiegelt ein grauer Bus die tiefstehende Sonne, die noch eine halbe Stunde von dem entfernt ist, was eine mittelmäßig eingefärbte Abendstimmung zu werden verspricht. Aber für so etwas hat der alte Mann am Felsen sowieso kein Auge. Er war nie ein Mann der Augen gewesen, weder damals noch heute.

Er ist zu diesem Aussichtspunkt hinaufgeklettert, weil es von ihm erwartet wurde. Langsam, den anderen seine Verachtung leise hinterher fluchend, weil unten zurück zu bleiben auch keinen Sinn gemacht hätte. Außerdem sollte bloß keiner denken, dass er es nicht mehr schaffen würde, er mochte jetzt alt sein, aber woher glaubten die, hatte sein Enkel die sportliche Statur?
Als junger Mann hat er die Filme der Leni Riefenstahl im Kino gesehen und sein Leben lang davon geträumt.

Jener Enkel bereut schon lange, die Reise gebucht zu haben. Sie war den Athleten für die Woche nach olympischen Spiele angeboten worden, griechisches Hinterland / Peloponnes. Damals hatte er sich schnell entscheiden müssen, dabei hätte ihm eigentlich klar sein müssen, dass man den Großvater keine Woche lang in einen Bus voller Ausländer pferchen darf. Da kommt dann immer nur die alte Schule zu Tage.

Ohne den Grund bewusst wahrzunehmen denkt der Alte plötzlich an Schildkrötensuppe. Hält das Gesicht in den Wind und denkt an den Geschmack von Schildkrötensuppe, die er nie in seinem Leben gegessen hat.
Und dann sieht er sein altes Wohnzimmer vor so vielen Jahren, die alte Couch, die eigentlich immer schon alt und den abgenutzten Teppich, der sehr wohl einmal neu und teuer gewesen ist. Über diesen Teppich ist damals der Graubler gelatscht, hat sich auf die Couch gelümmelt und seine Frau hatte kein Wort gesagt. Kein Wort über die schmutzigen Schuhe, den Dreck, den er bei jedem Schritt verloren hatte. Stumm hat sie in einemm Eck gestanden – für ein einziges Mal in ihrem Leben ohne Worte.

Der Enkel betrachtet den Großvater von der Seite. Autogramme die letzte Leidenschaft. Früher Leichtathlet, StuKa Flieger, dann Oberstudienrat, Mathematik und Physik – lange schon im Ruhestand. Jeden Zentimeter alte Schule – immer wieder peinlich.

Unbemerkt von den beiden trägt der Adler seine schwere Last nach oben. Die Beute tut, was ihr der Instinkt von abertausend Generationen gelehrt hat, sie wartet ab, zieht sich tief in ihre uneinnehmbare Festung zurück, nicht ahnend, dass Darwins Selektion ihrem Gegner längst die besseren Karten in diesem Duell zugeteilt hat.

Geredet hatte damals allein der Graubler. Der alte Mann hatte sich nur gefragt, wer dieser Kerl eigentlich war, der das Wohnzimmerbodenheiligtum seiner Frau so ungestraft entweihen durfte und jetzt über Schildkrötensuppe sprach, als sei es das Wichtigste der Welt.
Wie gut sie ihm doch einmal geschmeckt habe und dass der Sepp, wenn er dann in Argentinien angekommen war, natürlich nicht als erstes, aber doch irgendwann, ihm bitte ein paar Dosen besorgen solle. Als ob es nichts anderes zu besprechen gegeben hätte, im Wohnzimmer einer Familie, die gerade dabei war, ihren einzigen Sohn zu verlieren.

Wenn Freddy Quinn im Radio vom Heimweh singt, muss der Alte heute noch weinen.

Der Enkel sieht den aufgebrochenen Schildkrötenpanzer sehr wohl, der da vier Meter vor ihnen zwischen den Felsen liegt. Zuerst denkt er an die resche Wurstsemmel aus einem alten Volkschulwitz. Dann aber gleich an einen Bären, von dem er allerdings nicht annimmt, dass er am Peloponnes heimisch ist. Eine Karate gelehrte Springmaus kann das aber auch nicht geschafft haben. Vielleicht ein Hund mit Dosenöffner. Er sieht sich vorsichtig um und hofft, dass dieser Jäger nachtaktiv ist.

Der Großvater hat den Graubler nur einmal wieder gesehen. Für ein paar Augenblicke auf einem überfüllten Marktplatz, damals ist der Sepp schon zwei Jahre tot gewesen. Er ist stehen geblieben, der Graubler weiter gegangen, hatte ihn wahrscheinlich gar nicht erkannt, vielleicht war aber auch die nie erhaltene Schildkrötensuppe der Grund für das Übersehen.

Inzwischen hat der Adler hat seine angestrebte Höhe fast schon erreicht.

Wenn er auch kaum noch sehen kann, dieses Bild wird der Alte nie vergessen. Er, seine Frau, sein Sohn, alle drei wortlos vor Schmerz, dazwischen dieser kaum-Bekannte, den er nie vorher und nur einmal danach bewusst wahrgenommen hatte. Der aber redete ohne Unterlass, und als er dann endlich gegangen war, hätte man ihn sofort wieder zurück gewünscht. Sollte er doch ruhig stundenlang über Leberknödel- und Lungenstrudelsuppe philosophieren, wenn er nur diese schreckliche Stille vertreiben konnte.
Und dann ist das Taxi gekommen.

Einmal hat er Freddy Quinn im städtischen Freibad gesehen, bei der Wende sogar kurz mit ihm gesprochen, hatte von dem Konzert gar nichts gewusst, versprochen, sich sofort eine Karte zu kaufen. Lange schon ausverkauft hieß es und dann war der Freddy weiter geschwommen. Wer hatte in der Badehose auch schon etwas zum Schreiben dabei.

Seinen Enkel hat der alte Mann zum ersten Mal im Alter von sechs Jahren gesehen. War mit seiner Mutter aus Argentinien gekommen um auf eine Österreichische Schule zu gehen. Wer denn der blonde Junge sei, der auf den vielen Fotos im Haus der Großeltern zu sehen sei, hat er unschuldig gefragt. Da haben sie dann alle verschämt zu Boden gestarrt.

Es mag jetzt15 Jahre her sein, da hat der Enkel im Readers Digest einen Artikel über die schlauen Jagdgewohnheiten mancher Tiere zu lesen begonnen, war dann aber von einem Telefonanruf unterbrochen worden und so nie zu den Adlern des Peloponnes gekommen und wie sie ihre Hartschalenbeute aus großer Höhe auf Felsen knallen lassen, sonst wäre er wohl nicht so ruhig vor jenem Schildkrötenpanzer sitzen geblieben.
Dass allerdings weltweit mehr Menschen von zu Boden fallenden Cocosnüssen als von Haien getötet werden, das hat ihm erst unlängst ein Freund erzählt.

Nach einem Jahr war sie dann wieder weg, die Mutter und Schwiegertochter, die sowieso nichts wert gewesen war. Sie haben den Buben aufgezogen wie seinen Vater vor ihm und da soll ihnen nur ja keiner einen Vorwurf draus machen. Oder kommt heute etwa schon jeder zu den olympischen Spielen?

Der alte Mann dreht sich zur Silhouette des Enkels und lächelt stolz.
Als er die Riefenstahl eines Tages aus einem deutschen Autobahnrestaurant kommen gesehen hatte, war sein Kugelschreiber im Auto und eh er damit zurück, sie längst weitergefahren.

Hundert Meter über den beiden geht die Reise für den Passagier derweil zu Ende. Der Adler öffnet seine Krallen.

Fast hätte der Enkel das Papier in seiner Hand vergessen. Hat auf dem Anstieg das Autogramm des Italieners besorgt. Der war nämlich Olympiasieger. Trotzdem hätte der Großvater ihn sicher nie angesprochen. Schon allein wegen Südtirol und so.

Niemand schaut nach oben, dabei würde der alte Mann das Schauspiel über seinem Kopf sicher bewundern. Vor allem wie der Vogel seiner Beute jetzt hinterher stürzt. Die Ju 87 im Sturzflug, das ist in der siebten Klasse immer sein Lieblingsparabelbeispiel gewesen, wenn sich ein paar dieser Bachblüten-Eltern auch beim Direktor über seine Geschichten beschwert haben.
Natürlich konnten da auch Flüchtlingskolonnen dabei gewesen sein. Der Feind musste erst recht im Hinterland geschwächt werden.

Der Enkel reicht dem Großvater den unterschriebenen Zettel. Der greift danach und zieht die Brille mit den dicken Gläsern aus der Jackentasche.
Die Erdbeschleunigung hat den Schildkrötenpanzer längst zum tödlichen Geschoss gemacht.

Für einen Augenblick war man nach dem Hochreißen immer bewusstlos. Damals hat er das weggesteckt und keine Fragen gestellt. Heute wird ihm schon schwindlig, wenn er schnell aufstehen muss, so wie jetzt, reflexartig, weil mit der Brille sein Kugelschreiber aus der Jacke gefallen ist.
Aus manchen seiner Fehlern hat er dann doch gelernt. Nie mehr unbewaffnet. Papier und Kugelschreiber immer am Mann! Was, wenn jetzt plötzlich Nana Mouskouri ums Eck gekommen wäre?
Er macht einen unsicheren Schritt und bückt sich nach seinem Jagdgerät, als hinter ihm eine zweiundachtzig Jahre alte Schildkröte laut krachend und spektakulär ihr Leben beendet.

Die Köpfe der ganzen Gruppe fahren erschrocken herum. Ein Panzersplitter streift den Enkel am Unterarm. Verwirrung aller Orten. Ungläubig dazwischen nur ein alter Mann mit einem Kugelschreiber.

Gefangen

Gefangen
von
Isolde Elisa Bermann

Das schrille Klingeln ließ ihn erschrocken hochfahren. Seine Brust war schweißbedeckt, der Atem ging schnell, er bekam einen Hustenanfall, versuchte, den Wecker auszuschalten, fluchte, trat wütend nach der Katze, die aufs Bett gesprungen war und ihm in die Zehen gebissen hatte. Scheiße, sagte er zum Morgen, der unschuldig grau ins Zimmer kroch.

Es war fünf Uhr. Er ging in die Küche, nahm einen kräftigen Schluck aus der großen, bauchigen Flasche und fuhr sich mit kreisenden Bewegungen über den Schädel. Obwohl er keinen Hunger hatte, suchte er nach Essbarem in den Küchenkästen. Im Kühlschrank brauchte er nicht nachzusehen, selbst wenn sich darin etwas befunden hätte, wäre es längst verdorben. Er hatte seit Wochen keinen Strom mehr im Haus. Die Katze biss ihn erst, seit er ihr nichts mehr zu fressen gab. Auf dem Küchentisch standen die Reste seines gestrigen Abendessens, ein paar angebissene Äpfel und eine zu drei Viertel geleerte Rotweinflasche. Er rülpste laut.
Heute Abend sollte das anders werden. Deswegen war er schließlich so früh aufgestanden.

Er ging zurück ins Schlafzimmer und öffnete die Kastentür, die jämmerlich quietschte. Schließlich entschied er sich für eine dunkelgrüne Hose, die er erst einmal gewaschen hatte. Die vielen Flecken darauf würden sich als gute Tarnung erweisen.
Dann zog er an einem Ärmel, der aus dem Wäschehaufen hervorragte. Dem Hemd fehlten alle Knöpfe, aber das war ihm egal. Die Wollweste, die ihm seine Schwester vor dreißig Jahren gestrickt hatte, würde das Hemd dort an seinem Körper halten, wo es hingehörte. Einigermaßen zumindest.

Ein neuerlicher Hustenanfall schüttelte ihn. Er würgte und spie Schleim. Kruzifix no amol, wos isn hait lous, krächzte er dem Wildschweinschädel, der grinsend an der Wand hing, zu. Er nahm die Ausrüstung, die er sich am Vortag bereitgelegt hatte, steckte seine Füße in die Gummistiefel und tastete nach der Zigarettenschachtel in der Westentasche. Sie war da und er war augenblicklich beruhigt.

Er ließ die Haustür unversperrt. Als er im Garten stand, drehte er die Augen zum Himmel. Es würde nicht regnen. Die Wolkendecke hing träge und gleichmäßig grau über ihm. Bevor er die Gartentür hinter sich zufallen ließ, stieß er wie jeden Tag einen kräftigen Fluch aus.
Und wie jeden Tag folgte ein Seufzer über die ungerechte Verteilung der irdischen Güter, die sich beim Anblick der Nachbarhäuser so deutlich zu erkennen gab. Wenigstens hatte er ausreichend Grund um seine Hütte, und er hatte ausreichend Grund, ihn nicht zu mähen, damit die klebrigen nackten Schnecken sich in Ruhe vermehren und auf das Nachbargrundstück kriechen konnten.
Natürlich war er angezeigt worden, mehrmals sogar, aber letzten Endes war nichts weiter passiert.

Er folgte dem Schotterweg leicht bergab und bog dann in einen schmalen Waldpfad ein, der nach einer Weile leicht bergan führte. Er atmete schwer, hustete wieder und spuckte aus. Die Gummistiefel waren nass und erdbraun verschmiert. Feuchte Morgenluft legte sich schwer um seinen Hals. Gegen halb sechs stand er schließlich vor dem hohen Zaun. Ein Tor war darin eingelassen, mit einem schweren Schloss versperrt. Mühelos knackte er es und zwängte sich hindurch.
Das Gebiet war weitläufig eingezäunt, eine Forststraße führte hindurch. Es war Jagdzeit.

Ein Vogelschrei zerschnitt die Stille. Wind kam auf, er zog die Weste enger um den Körper, seine Hand, die die Ausrüstung trug, war klamm vor Kälte. Er sah seinen Gummistiefeln zu, die über den Kiesweg schürften. Die Bäume standen wie bedrohliche Soldaten. Eine große Lichtung breitete sich in weichen Hügeln vor ihm aus. Die Teiche waren darin eingebettet. Er ging auf den größten zu, der Wind hatte zitternde Wolken hineingezeichnet. Schilf säumte das Ufer, ein Steg stelzte auf hölzernen Beinen über dem Wasser.

Er hustete wieder, seine Eingeweide zogen sich zusammen, er krümmte sich. Als er wieder zu Atem kam, schritt er auf den Steg zu, setzte sich auf die feuchten Planken. Keuchend zog er die Packung aus der Westentasche und fischte mit steifen Fingern nach einer Zigarette. Zerscht amol a Fruahstuack, krächzte er und spie nach den Enten, die sich wie eine Armada aus braunen kleinen Booten auf ihn zu bewegten.
Teifl, des Kraut, er hustete, würgte, und rauchte. Die Enten drehten erschrocken ab.
Dann zog er die schäbige Blechbüchse aus der Hosentasche, holte ungeschickt einen der Würmer hervor, befestigte ihn zitternd und fluchend am Angelhaken.
Jetzt seids draun, sagte er befriedigt und ließ die Rute ins Wasser schnellen.
Sein Rücken lehnte unbequem an der Stange, an der sich das Schild „Angeln und Baden verboten“ befand. Er wusste nicht, wozu der Graf das Schild anbringen hatte lassen, das Gebiet durfte nur von ihm, seinen Förstern und Jagdgästen betreten werden.

Er erwachte von der Bewegung der Angel und richtete sich stöhnend auf. Sein Gesicht brannte, er wischte kurz darüber, hustete, sah das Rot auf seiner Handfläche. Scheiße no amol, wos isn des.
Er zog, die Rute bog sich durch, die Schnur ließ sich nicht einholen. Er drehte die Angel, zog hoch, versuchte, mit Bewegungen nach links und rechts, die Schnur freizubekommen. Endlich ließ sie sich einholen, er drehte mühsam, Teifl eini, suiche Fisch san jo do gor net drai, sagte er laut, und dann zog er hoch.
A Waunsinn. Wos isn des? Es war ein Stiefel, hoher Absatz, schlammverschmiert.
Er kratzte sich und seine Fingernägel schabten über die bartstoppelige Haut. Dann zog er einen Westenärmel über die Hand, wischte mit dem Ballen an der Schmutzschicht. Schönes teures Leder kam zum Vorschein, mit Schuhen kannte er sich aus.
Vielleicht gab es den zweiten noch irgendwo?
Er richtete sich unter Stöhnen auf, fasste nach seinem Rücken, ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn.
Das Ufer des Teiches war an manchen Stellen morastig und schilfbewachsen. Er durchschritt den Sumpf, bog das Schilf auseinander, ging ein Stück ins Wasser, tastete mit dem Ast, den er am Ufer gefunden hatte, stocherte am Boden, wühlte sich durch.

Plötzlich stieß er gegen ein Hindernis. Es war weich und nachgiebig, er lachte laut auf, das musste der zweite Stiefel sein. Er beugte sich hinunter, griff mit der Hand ins trübe Wasser und schrak zurück.
Das war kein Stiefel.
Das war nichts, was er kannte.

Er trat gegen das, was da lag, am seichten Teichufer. Es bewegte sich, er versuchte, seinen Fuß unter das Ding zu bekommen, es hochzuheben, dann fuhr seine Hand von neuem ins Wasser und er packte zu.

Erst als er sah, was nun halb aus dem Wasser gezogen war, wurde ihm bewusst, dass er in kein Tierfell gegriffen hatte.

Teifl. Er starrte sie an. Solch einen Körper hatte er noch nie gesehen, außer in den Magazinen, die er unter seinem Bett verstaute und in Filmen, die er sich nun immer weniger ansah.
Sie war vollkommen nackt.
Ihr Gesicht ließ ihn etwas tun, was er seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Er bekreuzigte sich.

Als er schwer atmend und mit brennender Brust in der Vormittagssonne auf dem Steg saß, den Inhalt der flachen Flasche warm und beruhigend im Magen, hätte er nicht sagen können, weshalb er es getan hatte. Nur, dass er es hatte tun müssen. Dass es eine Sünde war, ein Geschöpf wie dieses im Teich verfaulen zu lassen. Dass sie ein schönes, warmes Grab verdient hatte unter dem großen Baum auf der Lichtung. Dass sie dort Sonne haben würde, vom Morgen bis zum Abend und dass weiches Gras und Farne über ihr wachsen konnten und vielleicht auch Blumen. Wenn nicht, wollte er ihr welche bringen.
Wenn er eine Stimme gehabt hätte und einen Menschen, der dieser Stimme zuhörte, dann hätte er erzählt, dass er so etwas wie Stolz gefühlt hatte, weil er auf einmal fast hatte laufen können, zu seinem Haus, hinter dem der alte Schuppen mit dem Werkzeug stand und dass er die Schaufel mehr gezogen als getragen hatte, weil sie immer schwerer geworden war in seinen Händen.
Und dass ihr Haar, das an der Sonne noch ein letztes Mal zu seiner blonden Schönheit getrocknet war, ihn so berührt hatte. Und dass deswegen seine Hände so gezittert hatten, als er das weiße Tuch, das er am Teichufer gefunden hatte, um ihren Kopf band.
Und dass er erst, als alles vorüber war, wieder daran gedacht hatte, dass Jagdsaison war.

Er hatte jetzt eine Aufgabe. Er musste auf sie aufpassen. Nie sollte jemand von seinem Geheimnis erfahren.
Erst als er wieder in seine Hütte stapfte, wurde ihm bewusst, dass ihn an diesem Abend das gleiche Essen erwarten würde, wie an den Tagen zuvor. Doch es war ihm egal.

Buying New Soul

(inspired by Steve Wilson)

von Maria Edelsbrunner

Als ich erwache, sitze ich in einem ungepolsterten Sessel.
Der Raum ist kahl, bis auf ein paar gerahmte Zeichnungen, die wohl von Kindern stammen und den Schreibtisch zwischen dem Menschen und mir und den Erste Hilfe Schrank.
Gegenüber von mir sitzt ein grauhaariger, schlanker Mann mit einem weißen Arbeitsmantel.
Er trägt eine Brille mit silberfarbenem Rahmen.
Er sieht mich an, als sei ich eben erst erwacht. Im Übrigen ist sein Blick verständnisvoll.
Ich frage ihn, was es zum Essen gibt.
Er lacht und sagt: „Das ist ja einmal eine wirklich relevante Frage! Ich fürchte nur, Sie haben das Mittagessen verpasst. Aber zu Abend gibt es Spinatstrudel mit Schafskäse!“
„Ist vollkommen in meinem Sinne.“, sage ich, und er lacht wieder.
„Wie fühlen Sie sich?“
Sein Blick ist nun gänzlich bei mir.
Ich überlege.
Außer dass ich hungrig bin und ein wenig müde, fühle ich nichts.
Ich frage mich nicht, wie ich hier her gekommen bin, denn ich weiß es.
Ich überlege, ob ich weg will.
Ich will nicht weg. Nicht jetzt.
„Ich bin ein bisschen müde. Und hungrig“, sage ich. Mein Atem geht ruhig, mein Herz schlägt mühelos, ich blicke auf die Zeichnungen und suche das kompositorische Drittel.
Ich finde es bei allen und denke, dass Kinder wohl von Anfang an ein untrügliches Gespür für Proportionen und Richtigkeiten haben, bevor es ihnen aberzogen wird.
Das sage ich auch dem Menschen mir gegenüber, von dem ich annehme, dass er der Stationsvorstand ist.
Er sieht mich lange an und lächelt dann ein kleines vorsichtiges Lächeln.
„Ich will mit Ihnen ein paar Tests machen, bevor Sie sich aufs Abendessen stürzen.“, sagt er und schiebt mir ein paar Blätter Papier über den Tisch, „und ich begleite Sie auf Ihr Zimmer.“

Das ist mir sehr recht, ich hätte nicht einmal gewusst, dass ich eines habe.
Als ich wegdämmerte, war ich in der Notaufnahme, über mir zwei oder drei Gesichter, die dreinsahen, als wüssten die dazu gehörenden Menschen genau, was zu tun sei. Das war der erste beruhigende Eindruck gewesen seit….

Ich habe tatsächlich ein Zimmer für mich alleine.
Nicht einmal zu Hause, wo immer das ist, habe ich eines.
Das Zimmer ist noch kahler als das Zimmer des Arztes. Kein einziges Bild.
Nur ein Tisch, zwei Sessel, zwei Betten, von denen eines nicht einmal bezogen ist. Kein Fernseher, keine Zeitungen, keine Blumen. Der Griff am Fenster ist abmontiert, das sehe ich als erstes.
Ich blicke hinaus auf ein paar alte Ahornbäume im Anstaltspark und sehe, es regnet noch immer. Es kann nicht viel Zeit vergangen sein.
Oder regnet es schon wieder?
Ich frage den Arzt.
„Sie sind seit gestern hier.“, sagt er und sieht mich lange an, länger als gewöhnlich, ich weiß, wie lange Arztblicke normalerweise verweilen.
„Scheißwetter.“, sage ich und schaue fest zurück.
Wir setzen uns mit dem Papierhaufen an den Tisch, er gibt mir einen Kugelschreiber, und ich beginne, Fragen zu beantworten.

Ich sehe ein System in den Fragen.
Ich erkenne einen Code.
Ich begreife:
ich müsste nur nach dem Code leben, um glücklich zu sein.
Ich müsste nur nach dem Code denken, um glücklich zu sein.
Ich müsste, das vor allem, nach dem Code fühlen, um glücklich zu sein, zumindest oft genug, um das Unglück meines Glücks zu ertragen.
Der Code geht ganz einfach:

Abbezahltes Haus + verständnisvoller Mann + aufgearbeitete Familiengeschichte + hübsche gesunde wissbegierige Kinder + herausfordernder Job + liebe großzügige durchgeknallte Freunde + Zeit für Neigungen + keine körperlichen Wehwehchen + lieben und geliebt werden = erfülltes, wunschloses Leben.

Nach Beantwortung der Fragen ist mein leichtes, unbeschwertes Gefühl weg.
Ich habe plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil mir das alles viel zu viel ist.
Und viel zu wenig.
Ich sage das so dem Arzt. Ich hoffe auf Verständnis.
Er schaut mich wieder lange an.
„Ihre Familie hat Sie bald wieder.“, sagt er leise, „da bin ich ganz sicher.“
Als er das sagt, zieht es mir den Boden unter den Füßen weg.
Ich ziehe die Hauspatschen aus, die mir bestimmt meine fürsorgliche Tochter eingepackt hat, und gehe barfuß durchs Zimmer.
Ich spüre kaltes, glattes Linoleum, verschweißte Fugen, kein Körnchen Mist auf dem Boden. Meine Füße, obwohl sauber, erscheinen mir schmutzig ob soviel Sterilität. Meine Zehennägel sind lackiert, wann habe ich das gemacht?
Meine Unterschenkel sind rasiert, wann war dafür Zeit?
Und weil ich gerade beim Vergewissern bin, fasse ich meinen Haarschopf und schnuppere daran, die Haare sind frisch gewaschen und duften nach einem Shampoo, von dem ich glaube, dass ich es erst vorgestern gekauft habe.
Wohin ist das alles?

„Was mache ich mit einem Leben, in dem alles stimmt?“ frage ich den Arzt.
Er lacht. Es ist ein Lachen, das mich nicht beruhigen soll, es ist hart und zynisch und ich beginne Hoffnung zu schöpfen.
„Gefällt Ihnen das Zimmer?“ fragt er.
„Ja.“, sage ich, „Es gefällt mir sehr.“